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Warum das Deutsche Museum ein Gemälde an die Erben des jüdischen Unternehmers Sigmund Waldes zurückgibt

Die Geschichte beginnt mit einer Walzmaschine: Weil man in der Ausstellung Metallbearbeitung die Herstellung von Draht aus Vierkantbarren vorführen wollte, bat das Deutsche Museum 1957 den Pforzheimer Walzmaschinenfabrikanten Max Bühler um eine Skizze der erforderlichen Walzenprofile. Großzügig bot Bühler dem Museum daraufhin die Lieferung einer kompletten Maschine mit Kurbelantrieb an. Später wurde das Gerät durch ein moderneres Walzwerk der Firma Bühler ersetzt, das bis in die 1990er Jahre in der Ausstellung gezeigt wurde.

Die Sammlung des Pforzheimer Maschinenfabrikanten Max Bühler

Vermutlich liegt es an dieser Vorgeschichte, dass die 1993 verstorbene Adoptivtochter Max Bühlers die umfangreiche Kunst- und Antiquitätensammlung, die Bühler neben seiner Tätigkeit als Unternehmer im Lauf seines Lebens (1887–1978) zusammengetragen hatte, nicht einem kunsthistorischen Museum, sondern dem Deutschen Museum vermachte: Eine etwas eigenwillige Mischung aus Gemälden, Porzellan, Skulpturen, Antiken und Asiatika, deren beste Stücke man damals gerne übernahm.

Heute beschäftigt die Bühler-Sammlung, die seither – abgesehen von einer kurzen Sonderausstellung 1998 – großteils ein Schattendasein im Depot verbrachte, vor allem die Provenienzforschung des Hauses. Die Probleme beginnen damit, dass man kaum etwas zur Herkunft der Objekte weiß. Aufzeichnungen zu seiner Sammlung hat Bühler nicht hinterlassen. Bei der Übernahme konnte man lediglich in Erfahrung bringen, dass Bühler das meiste wohl in den 1950er–1970er Jahren im Kunsthandel erworben hat, vor allem bei Auktionshäusern in Köln und München. Kritische Herkunftskontexte wie illegaler Antikenhandel, koloniale Zusammenhänge, NS-Raubgut etc. waren zu dieser Zeit im Kunst- und Antiquitätenhandel noch kaum ein Thema. Heute hingegen haben öffentliche Museen die Verpflichtung, ihre Sammlungen auf Objekte aus solchen Kontexten zu untersuchen und Anhaltspunkten für problematische Provenienzen nachzugehen. Bei einem Gemälde aus der Bühler-Sammlung gab es einen solchen Anhaltspunkt.

Auf der Rückseite einer 1913 von Hans Thoma gemalten Meerjungfrau klebte ein altes Pfandsiegel des Amtsgerichts Dresden. Ohne erkennbares Datum, typografisch konnte das Siegel aber durchaus aus der NS-Zeit stammen. Das musste für sich allein noch nichts bedeuten, war aber Anlass genug, zu überprüfen, ob das Bild in der NS-Raubgut-Datenbank Lost Art gelistet war. Die Suche führte schnell zu einem Treffer: Tatsächlich war dort eine Suchmeldung zu einer „Meeresjungfrau“ von Hans Thoma eingestellt – „Brustbild einer Nymphe halb aus dem Wasser sich erhebend, große untergehende Sonne im Hintergrund; Querformat“ –, die bis 1938 zur Sammlung von Sigmund Waldes in Dresden gehört hatte.

Der Unternehmer und Sammler Sigmund Waldes

Wie Max Bühler war Sigmund Waldes (1877–1961) ein erfolgreicher Unternehmer: Seit 1904 leitete er die Dresdner Niederlassung der zwei Jahre zuvor von seinem Bruder Jindřich (Heinrich) Waldes und dem Mechaniker Hynek Puc in Prag gegründeten Firma Waldes & Co. Die Firma hatte ein neuartiges Verfahren zur maschinellen Fertigung von Druckknöpfen entwickelt und war mit der Marke Koh-i-noor – „der Diamant der Druckknöpfe“ – schnell zum weltweiten Marktführer aufgestiegen.

Der wirtschaftliche Erfolg ermöglichte es Sigmund Waldes nicht nur, 1916 in der Dresdner Südvorstadt eine großzügige Villa zu erwerben, sondern auch – eine weitere Parallele zu Bühler – in größerem Umfang Kunst zu sammeln. 1929 war Waldes mit 16 Gemälden von Lovis Corinth, Max Liebermann, Hans Thoma u. a. (zeitgenössischen) Künstlern auf der Jubiläumsausstellung des Sächsischen Kunstvereins Neuere Kunstwerke aus Dresdner Privatbesitz  vertreten.

1933 enden die Parallelen zwischen den beiden Unternehmern: Max Bühler arrangierte sich mit dem an die Macht gekommenen NS-Regime, wurde – auch wenn er persönlich wohl kein überzeugter Nazi war – Parteimitglied und konnte sein (zeitweise auf Rüstungsproduktion umgestelltes) Unternehmen in der NS-Zeit erfolgreich weiterführen. Da er nach der Zerstörung der Pforzheimer Synagoge durch die SA im November 1938 das neben seinem Firmengelände gelegene Grundstück der Israelitischen Gemeinde erworben hatte, musste er sich nach Kriegsende einem Spruchkammerverfahren stellen, in dem er jedoch weitgehend entlastet wurde. (Bühler konnte u. a. geltend machen, dass er mit dem Kauf einer drohenden ersatzlosen Enteignung durch die NS-Behörden zuvorgekommen war und der Gemeinde die weitere Nutzung der auf dem Grundstück verbliebenen Gebäude ermöglicht hatte, bis das von der Gestapo unterbunden wurde). Das Verfahren endete mit einer Einstufung als Mitläufer.

Sigmund Waldes gehörte als Jude dagegen zu den Verfolgten des NS-Regimes. 1938 gelang es ihm, mit seiner Familie in die USA zu emigrieren. Die Niederlassungen der Firma Waldes innerhalb des Deutschen Reichs wurden arisiert, die in seiner Villa zurückgelassene Kunstsammlung 1939 vom Amtsgericht Dresden gepfändet und anschließend beschlagnahmt. Nach Sichtung der Sammlung durch den Direktor der Staatlichen Gemäldegalerie Dresden und Sonderbeauftragten Hitlers für das geplante „Führermuseum“ in Linz, Hans Posse, wurden die Kunstgegenstände schließlich im Auftrag des Reichswirtschaftsministeriums versteigert.

NS-Raubkunst im Kunsthandel

Eine zentrale Rolle spielte dabei das Berliner Auktionshaus Hans W. Lange: Im Katalog einer Versteigerung vom 16./17. April 1943 mit dem unverdächtigen Titel „Verschiedener deutscher Kunstbesitz“ hatte ein anderes Provenienzforschungsprojekt bereits 2019 mehrere Gemälde aus der Sammlung Waldes identifiziert. Unter dem gleichen Auftraggeberkürzel („121. Berlin“ – vermutlich der Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg) findet sich hier auch ein „Meereserwachen“ von Hans Thoma, „grau in grau gemalt vor gelblichem Himmel mit aufgehender Sonne“. Die dazugehörige Abbildung (Tafel 20) zeigt genau die Meerjungfrau, die das Deutsche Museum 1995 mit der Bühler-Sammlung übernommen hat. Die damalige Los-Nr. 231 kann man bis heute auf der Rückseite erkennen.

Wann und wo Bühler das Bild erworben hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls nicht direkt bei Hans W. Lange: Bereits am 11. Juli 1944 wird das Bild dem Getty Provenance Index zufolge unter dem Titel „Das Meerweib“ erneut beim Auktionshaus Dorotheum in Wien verkauft. Danach verliert sich seine Spur. Nach den zahlreichen Nummern und Etikettenresten auf der Rückseite dürfte es aber noch weitere Besitzwechsel gegeben haben, bevor das Bild schließlich bei Bühler landete.

Dass das Bild aus der Sammlung eines enteigneten jüdischen Industriellen stammt, wird Bühler nicht bekannt gewesen sein. Schenkt man den Aussagen in seinem Spruchkammerverfahren Glauben, hätte er es wohl auch nicht korrekt gefunden, solche Dinge zu erwerben. Eine Verpflichtung, das Gemälde zu restituieren, hätte Bühler, wenn er noch lebte, als privater Sammler aber nicht: Zivilrechtlich sind Ansprüche aus NS-verfolgungsbedingten Entzugsakten nach geltendem Recht schon lange verjährt.

Öffentliche Einrichtungen sind dagegen aufgrund der Washingtoner Prinzipien von 1998 dazu angehalten, bei Fällen von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut in ihren Sammlungen faire und gerechte Lösungen zu finden. Da es sich eindeutig um Raubkunst handelt, gibt das Deutsche Museum die Meerjungfrau nun an die Erben von Sigmund Waldes zurück.

Anmerkungen, Quellen und Tipps zum Weiterlesen

Die Recherchen zur Provenienz des Gemäldes von Hans Thoma erfolgten in wesentlichen Teilen durch Christine Bach im Rahmen des Projekts Verdächtige Provenienzen – Recherche nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut im Bestand des Deutschen Museums. Wichtige Quellen waren das Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, das Bundesdenkmalamt Wien, das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) sowie das Provenienzforschungsprojekt zum Verbleib der Sammlung Waldes von Irena Strelow. Der initiale Hinweis auf die Lost Art-Suchmeldung kam von Wiebke Henning.

Vor dem Deutschen Museum haben bereits die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die SLUB Dresden, die Stiftung Saarländischer Kulturbesitz und die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen Objekte aus ihren Sammlungen an die Erben von Sigmund Waldes restituiert.

Die in Tschechien bis heute existierende Firma Waldes/Koh-i-noor wurde nach ihrer Arisierung durch die Nazis 1945 im Rahmen der Beneš-Dekrete verstaatlicht, nach dem Zerfall des Ostblocks dann privatisiert. Die Restitutionsforderungen der Waldes-Erben wurden von tschechischen Gerichten mehrfach abgewiesen. Mehr zur Geschichte der Firma sowie zur Biografie von Sigmund Waldes und seines Bruders Jindřich findet man u. a. bei Radio Prague International (Kleiner Helfer mit großer Geschichte: Der Patentknopf „Koh-i-noor“), auf der History-Webseite der Firma KOH-I-NOOR, im Österreichischen Biographischen Lexikon und auf der Website der Gedenkstätte Buchenwald. Die Beteiligung von Sigmund Waldes an der Jubiläumsausstellung des Sächsischen Kunstvereins 1929 geht aus dem (bislang leider nicht online verfügbaren) Katalog hervor.

Auf der Website altesdresden.de erfährt man, dass die Villa von Sigmund Waldes in der Kaitzer Straße 30 nach dessen Enteignung von der SS als Dienststelle genutzt wurde. Eine Luftaufnahme aus dieser Zeit ist in der Deutschen Fotothek zu finden (in der Häuserreihe unterhalb der zweiten Querstraße das große Haus mit Garten ganz rechts). Nur drei Häuser weiter (Kaitzer Straße 26) wuchs übrigens der in der NS-Zeit mit der Verwertung beschlagnahmter „entarteter Kunst“ betraute Kunsthändler Hildebrand Gurlitt (1895–1956) auf, dessen Privatsammlung 2012 in München auftauchte (Schwabinger Kunstfund).

Max Bühler gründete mit seinem Vermögen eine nach ihm und seiner Tochter benannten Stiftung, die bis heute existiert. Die Firma selbst musste 2008 Insolvenz anmelden. Die Akten zum Kauf des Grundstücks der Israelitischen Gemeinde Pforzheim und zum Spruchkammerverfahren Bühlers findet man auf der Website des Landesarchivs Baden-Württemberg unter den Signaturen Generallandesarchiv Karlsruhe 237 Zugang 1967-19 Nr. 1433 und 465 m Nr. 14919. Weitere Stücke aus der 1995 vom Deutschen Museum übernommenen Kunstsammlung Max Bühlers sind im Deutschen Museum Digital zu sehen.

Auch die vier zwischen 2016 und 2018 aus dem Depot des Deutschen Museums gestohlenen Gemälde, die im September 2023 nicht nur in der SZ für Schlagzeilen sorgten, stammen übrigens aus der Bühler-Sammlung. Ein NS-Raubkunst-Kontext ist auch bei diesen Gemälden nicht ausgeschlossen. Aufgrund des Diebstahls steht eine genauere Untersuchung der Provenienz noch aus.

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Autor/in

Bernhard Wörrle

Bernhard Wörrle ist promovierter Ethnologe und leitet seit 2013 das digitale Sammlungsmanagementsystem des Deutschen Museums. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt ist koloniales Sammlungsgut.

Sein Tipp für einen Besuch im Deutschen Museum: Die Vorführung in der Ausstellung Chemie anschauen! Unter der Woche täglich live, kostenlos und ohne Anmeldung.