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Wie kommt ein Auslegerboot aus Samoa im Jahr 1911 an das Deutsche Museum in München? Ganz einfach: Über das Oktoberfest!

Koloniales Sammlungsgut im Deutschen Museum Teil 5

Die Samoa-Völkerschau von 1910

Zum hundertjährigen Jubiläum gastierte auf dem Münchner Oktoberfest eine Samoa-Völkerschau. Für die Vorstellungen hatte man unter anderem traditionelle Kanus mitgebracht, mit denen zu Füßen der Bavaria ein künstlich angelegter Teich befahren wurde. Eines der Boote ist heute im Deutschen Museum ausgestellt.

Veranstaltet wurde die Schau von den Brüdern Fritz und Carl Marquardt. Fritz war als Angestellter der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft der Südsee-Inseln zu Hamburg 1887 nach Samoa ausgewandert und hatte eine einheimische Frau geheiratet. Von 1900 bis zum Ersten Weltkrieg gehörte der Westteil der Samoainseln zu den deutschen Kolonien im Pazifik. Carl kümmerte sich als "Unternehmer völkerschaftlicher Ausstellungen" von Berlin aus um die Organisation und handelte mit Ethnografika. Zuvor waren die Brüder schon zweimal mit einer Samoaner-Gruppe auf Tournee gegangen (1895-97 und 1900/01).

Zusammengestellt wurde die Truppe von 1910 allerdings nicht von den Marquardts, sondern von einem der ranghöchsten politischen Oberhäupter Samoas, Tupua Tamasese Lealofi, der in Begleitung seiner Frau und mehrerer Kinder ebenfalls mit nach Europa fuhr. Auch die übrigen Mitglieder gehörten vornehmen samoanischen Familien an. Arbeitspensum und Bezahlung waren in einem Vertrag geregelt. Für Vorstellungen am Sonntag war ein Zuschlag festgelegt.

Tatsächlich reiste Tupua Tamasese Lealofi aber nicht wegen des Geldes nach Europa. Nach allem, was man weiß, versprach er sich, durch die Reise in eine Vormachtstellung gegenüber politischen Konkurrenten zu gelangen und gleichzeitig seine Beziehungen zur Kolonialmacht Deutschland auszubauen. Die Ethnologin Hilke Thode-Arora, die am Museum Fünf Kontinente die Geschichte der Marquardtschen Samoa-Völkerschauen akribisch rekonstruiert hat, nimmt an, dass Tamasese die Tournee als diplomatischen Besuch verstanden hat: "Die Reise nach Deutschland wurde geplant wie eine samoanische malaga, eine Besuchsreise einer Gruppe in ein anderes Territorium, wo die Gastgeber über Wochen oder Monate hinweg für die Bewirtung sorgen und die Gäste sich mit Unterhaltung, Musik, Tanz und wohlgesetzten Reden bedanken." Außer guten Tänzer- und SängerInnen führte Tamasese deshalb auch wertvolle Geschenke für die hochrangigen Personen mit, die er in Deutschland zu treffen hoffte.

Begegnung mit Prinzregent Luitpold

Tatsächlich kam es am Rande der Schau in München zu einer Begegnung mit dem bayerischen Prinzregenten Luitpold, verbunden mit einem Austausch diplomatischer Geschenke. Die von Tamasese überreichten kostbaren Matten aus Rindenbaststoff befinden sich heute im Museum Fünf Kontinente. Einige Monate später wurde Tamasese in Berlin von Kaiser Wilhelm II. empfangen. Auch hier tauschte man freundlich Geschenke aus.

Ein perfider Schachzug

Was Tamasese nicht wusste, war, dass es auf deutscher Seite noch eine heimliche Agenda gab: Der Grund, dass Fritz Marquardt eine Genehmigung für seine dritte Samoa-Schau bekommen hatte, obwohl seit 1901 eigentlich ein Verbot bestand, Menschen aus deutschen Kolonien für Völkerschauen anzuwerben, war, dass der Kolonialverwaltung eine längere Abwesenheit Tamaseses aus Samoa sehr gelegen kam. Sie befürchtete, dass er als einer der einflussreichsten politischen Akteure Samoas Anspruch auf die Nachfolge des 1900 von den Deutschen eingesetzten "Oberhäuptlings" Mata'afa erheben würde. Die Kolonialverwaltung plante dagegen, den höchsten Häuptlingstitel nach dem Tod Mata'afas abzuschaffen und fortan zwei Häuptlinge gleichberechtigt als "Berater" des deutschen Gouverneurs zu installieren. Die Genehmigung der Reise war ein perfider Schachzug, um Tamasese kalt zu stellen

Die Schenkungen von Carl Marquardt

Von Mai 1910 bis August 1911 gastierte die Samoa-Schau u. a. in Hamburg, Frankfurt, Köln, Breslau, Dresden und Berlin. Ob Oskar von Miller die Vorführungen auf dem Münchner Oktoberfest persönlich gesehen hat, ist nicht ganz sicher. Aus den Akten geht jedenfalls hervor, dass am 1. Oktober 1910 eine Besprechung des Museumsgründers mit Carl Marquardt stattgefunden hat. Dieser hatte zuvor angeboten, "einige Originalgegenstände aus Samoa an das Deutsche Museum abzugeben". Für 300 Mark erwarb das Museum daraufhin noch im Oktober ein erstes Auslegerkanu, das anders als das in der Ausstellung zu sehende aus einem Stamm geschnitzte Paopao "aus verschiedenen zusammengebundenen Teilen" bestanden haben muss. Das Objekt befindet sich heute nicht mehr in der Sammlung: Es wurde 1915 beim Hamburger Ethnografika-Händler J.F.G. Umlauff, bei dem Oskar von Miller häufiger Exponate kaufte, gegen ein Auslegerboot aus Neuguinea eingetauscht.

Im August 1911 teilt Marquardt dem "verehrlichen Deutschen Museum" dann mit, dass er "nach Rückreise der Samoaner in ihre Heimat" noch fünf originale samoanische Einbaumkanus abzugeben habe, je nach Typ und Länge zu Preisen zwischen 90 und 150 Mark. Als das Museum nicht gleich reagiert, offeriert Marquardt wenige Wochen später, dem Deutschen Museum ein 4,5 m langes Paopao und ein über 7 m langes Soatau als Geschenk zu überlassen. Dieses Angebot nimmt Oskar von Miller umgehend an.

Das große Soatau wurde vermutlich niemals ausgestellt. Das Paopao dagegen war schon 1926 in der Ausstellung Schifffahrt zu besichtigen – als Teil der Abteilung "Schiffe der Naturvölker" damals noch in eine üppige Südseeinszenierung eingebaut. Ein Farbrest davon ist auf dem dazugehörigen Paddel heute noch zu sehen.

Die Letzte ihrer Art?

Wahrscheinlich ist auch eine große Schlitztrommel, die Carl Marquardt dem Deutschen Museum 1911 als Schenkung überließ, ein Relikt der Samoa-Völkerschau von 1910. Laut Marquardt war sie "ehemals Eigentum des Grosshäuptlings Tamasese von Aana" und sei "wohl die einzig noch vorhandene ihrer Art". Ob das tatsächlich ganz richtig war oder eher eine Behauptung Marquardts, um den besonderen Wert seines Geschenks herauszustellen, ist heute schwer zu überprüfen. Die Macht der traditionellen Häuptlingsfamilien bestand jedenfalls auch nach dem deutschen Intermezzo in Samoa fort, wenn auch in etwas veränderter Form: Das Staatsoberhaupt Samoas war von 2007 bis 2017 ein Enkel von Tupua Tamasese Lealofi.

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Quellen und Literatur zum Weiterlesen:

Meine Darstellung der Marquardtschen Samoa-Völkerschau von 1910/11 und der Geschichte Tupua Tamasese Lealofis folgt weitgehend dem Katalog From Samoa with Love? Samoa-Völkerschauen im Deutschen Kaiserreich zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Fünf Kontinente, München 2014. Eine frei zugängliche Kurzfassung ist im 2018 erschienenen Sammelband  Provenienzforschung zu ethnografischen Sammlungen der Kolonialzeit: Positionen in der aktuellen Debatte zu finden. Die Akten der deutschen Kolonialverwaltung zur Reise Tamaseses sind im Bundesarchiv online unter der Signatur R 1001/3066 einsehbar.

Nachtrag

27.1.2022 – Vom 1915 im Tausch gegen ein anderes Boot aus Neuguinea an J.F.G. Umlauff abgegebenen ersten Boot aus der Samoa-Schau existiert im Verwaltungsarchiv des Deutschen Museums noch eine Skizze. Offensichtlich handelte es sich um ein aus vernähten Planken gefertigtes Bonito-Kanu (va'a alo). Umlauff gibt an, dafür schon einen Abnehmer gefunden zu haben. Wer bzw. welches Museum das war, ist bisher unbekannt. Vielleicht existiert das Boot ja noch in irgendeiner Sammlung und lässt sich anhand der Skizze identifizieren.

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Autor/in

Bernhard Wörrle

Bernhard Wörrle ist promovierter Ethnologe und leitet seit 2013 das digitale Sammlungsmanagementsystem des Deutschen Museums. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt ist koloniales Sammlungsgut.

Sein Tipp für einen Besuch im Deutschen Museum: Die Vorführung in der Ausstellung Chemie anschauen! Unter der Woche täglich live, kostenlos und ohne Anmeldung.