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Kautschuk, Palmöl, Elfenbein & Co. Welche Rolle spielten Kolonialrohstoffe für die technische Entwicklung des globalen Nordens?

Koloniales Sammlungsgut im Deutschen Museum Teil 2

Was hat ein Oldtimer mit kolonialem Sammlungsgut zu tun? Der PROTOS ist 1908 bei einem Langstreckenrennen einmal um die Welt gefahren. Doch das ist nicht der Grund. Auch von der Provenienz her, eine Schenkung der Siemens-Schuckertwerke 1911, besteht erst einmal kein Zusammenhang. Schaut man sich die verbauten Materialien und deren Herkunft näher an, sieht die Sache wie bei vielen Exponaten in der Sammlung des Deutschen Museums aber plötzlich anders aus. Hier sind es die Reifen. Bevor es 1929 gelang, brauchbaren synthetischen Kautschuk herzustellen, war man für die Herstellung von Gummi auf natürlichen Kautschuk angewiesen. Der aus dem Milchsaft verschiedener tropischer Pflanzenarten gewonnene Rohstoff kam entweder aus Südamerika oder aus den europäischen Kolonien in Afrika und Südostasien.

In Deutschland hatte man zwar schon 1909 ein Verfahren zur Herstellung von künstlichem Methylkautschuk erfunden. Erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde das von den Elberfelder Farbenfabriken (vormals Friedr. Bayer & Co., die Keimzelle der heutigen Firma Bayer) entwickelte Produkt auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Museums 1911. Das als großer Durchbruch gefeierte Material ("Wir haben auch hier die Natur übertrumpft") war aber in der Herstellung zu teuer und natürlichem Kautschuk qualitativ deutlich unterlegen. Unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg wurde die Produktion deshalb schon wieder eingestellt.

Bis 1929 muss darum nahezu alles, was Gummireifen hat, zumindest partiell als koloniales Sammlungsgut betrachtet werden. (Was auch für südamerikanischen Kautschuk gilt: Die meisten Staaten waren hier zwar seit Anfang des 19. Jahrhunderts unabhängig, intern bestanden koloniale Strukturen aber in vieler Hinsicht fort).

Und nicht nur Reifen: Kautschuk war auch zur Herstellung von Schläuchen und gummierten Stoffen (für Regenmäntel, Zelte, Gummiboote, Tauchanzüge, Zeppeline...) nötig. Aus Kautschuk wurden Treibriemen für Maschinen und Gummiringe für Einweckgläser hergestellt, Brillen, Kämme, Taschenspiegel... Auch Batteriezellen und Akkumulatorkästen wurden aus Kautschuk angefertigt. Zum Beispiel für das U-Boot-Programm der Kaiserlichen Marine: Allein für die Batterien eines einzigen U-Boots waren 10-15.000 kg Kautschuk nötig. Die Nachrichtentechnik und Elektroindustrie war für die Kabelisolierungen auf Kautschuk angewiesen. Für Erd- und Tiefseekabel verwendete man den verwandten Rohstoff Guttapercha.

Insgesamt war der Bedarf gigantisch. Die Gewinne aus dem Kautschukhandel waren märchenhaft: Die brasilianischen Gummibarone schwammen so im Geld, dass sie sich mitten im Amazonasbecken ein pompöses Opernhaus errichten lassen konnten. Das Baumaterial wurde großteils aus Europa importiert. Die Kosten spielten keine Rolle.

Das Problem war allerdings: Bevor es gelang, Kautschukbäume in Plantagen zu kultivieren, konnte der Rohstoff nur per Wildsammlung gewonnen werden. Dafür war man auf lokales Wissen angewiesen. Vor allem aber benötigte man für das Zapfen des Milchsafts, die Erstverarbeitung zu Ballen oder "Fellen" und den Transport ein riesiges Heer von Arbeitskräften.

Die gängigen Mittel, um das Maximum an Ertrag aus der einheimischen Bevölkerung herauszupressen, waren Terror und Gewalt. Die schlimmsten Exzesse während des Kautschuk-Booms fanden zweifellos im Kongo-Freistaat statt, der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II: Die Strafmaßnahmen bei Nichterfüllung der von der Kolonialverwaltung festgesetzten Lieferquoten gingen hier bis zur systematischen Verstümmelung von Kindern. In Europa war das kein Geheimnis: Von kritischen Zeitgenossen wie dem heute vor allem für seine Sherlock Holmes-Romane bekannten britischen Schriftsteller Conan Doyle wurden die Kongo-Gräuel schon kurz nach 1900 ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Nur wenig später wurden Berichte über Menschenjagden und Gewaltexzesse in den Kautschukgebieten des Amazonasbeckens publik.

In den deutschen Kolonien – der Großteil des Kautschuks kam aus Kamerun gefolgt von Deutsch-Ostafrika (den heutigen Staaten Tansania, Ruanda und Burundi) – war die Situation nicht sehr viel besser: Unfaire Handelspraktiken, die sklavereiähnliche Abhängigkeiten erzeugten (mehr dazu in Teil 1), Zwangsarbeit und drakonische Prügelstrafen mit Tauenden und Nilpferdpeitsche gehörten auch hier zur Tagesordnung. Geht man der Herkunft des Materials nach, das technische Meisterleistungen wie die Erfindung des Luftreifens, das innovative Tauchgerät des Kölner Gummifabrikanten Clouth oder das Unterseeboot U 1 erst möglich machte, blickt man in eine Welt des Grauens.

Was auch für andere Kolonialprodukte gilt. Zum Beispiel Elfenbein, das man im Deutschen Museum nicht nur in Form von Klaviertasten und Messergriffen findet, die Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit Billardkugeln und Kämmen den Hauptanteil des Elfenbeinverbrauchs ausmachten. Elfenbein wurde – häufig in Kombination mit Tropenhölzern – auch in anderen Instrumenten und technischen Geräten aller Art verbaut:

Auch hier war der Bedarf enorm: In den 1890er Jahren exportierten allein die deutschen Kolonien in Afrika laut amtlicher Statistik jährlich bis zu 208.000 kg Elfenbein. Was nach einer zeitgenössischen Berechnung des Hamburger Reeders und Afrikahändlers Adolph Woermann ca. 10.000 getöteten Elefanten (pro Jahr!) entsprach. Da absehbar war, dass sich die Tiere nicht im gleichen Maß vermehrten, machte sich Woermann schon 1879 Gedanken um die Nachhaltigkeit des Elfenbeinhandels in Westafrika. Allerdings nicht wegen der Elefanten, sondern wegen des damit verbundenen Geschäfts. (Mehr zu Woermann in Teil 1).

Ärgerlich war aus Sicht Woermanns und anderer an der Kamerunküste ansässiger deutscher Handelshäuser auch, dass der Elfenbeinhandel im Hinterland in der Hand von islamischen Händlern lag, die ihre Ware lieber an die Briten oder über die Transsahararoute nach Tripolis verkauften. Das wenige, was an die Küste zu den deutschen Faktoreien ging, wurde von einheimischen Zwischenhändler kontrolliert. Dadurch verteuerte sich der Einkaufspreis. Auch hier setzten die Kolonialherren ihre Interessen brutal durch: Ein Gutteil der Massaker, die die deutschen Schutztruppen im Schulterschluss mit den lokalen Agenten deutscher Handelshäuser in Kamerun verübten, hatte nachweislich zum Ziel, störende Zwischenhändler auszuschalten, um die Kontrolle über den Elfenbeinhandel und die mit diesem verbundenen Profite zu bekommen.

Dabei war Elfenbein dem Handelsvolumen nach in Deutsch-Kamerun noch gar nicht einmal so wichtig: Die ausgeführte Menge nahm, wie Woermann vorausgesehen hatte, ab 1907 kontinuierlich ab. Nach Kautschuk, dem mit Abstand wichtigsten Exportprodukt, wurden vor allem Palmöl und Palmkerne ausgeführt. In Togo, ebenfalls deutsche Kolonie, standen Palmkerne sogar an erster Stelle. Ein Schaukasten in der Sammlung des Deutschen Museums erklärt, warum diese so wichtig waren: Palmkernöl ist ein Ausgangsstoff für Margarine, sowie für Stearinkerzen und Seife. (Daher die Marke Palmolive!). Dass diese Güter für die Bevölkerung in Deutschland erschwinglich waren, lag an den billigen Arbeitskräften in den Kolonien.
Wie hätte die Entwicklung des Westens ohne den Kolonialismus ausgesehen? Margarine, Kerzen und Seife hätte es auch ohne Kolonien gegeben, allerdings zu einem höheren Preis. Elfenbein war als Werkstoff praktisch, aber selten essentiell. Versucht man, sich billigen Kautschuk wegzudenken, bekommt das Ganze eine völlig andere Dimension: Erschwinglicher Gummi war ein Schlüsselrohstoff. Ohne ihn hätte nicht nur die Entwicklung der Automobilität – und alles, was wiederum an dieser hängt – einen ganz anderen Verlauf genommen. Viele Erfindungen hätten sich, so sie denn überhaupt gemacht worden wären, nie durchgesetzt. Die Industrialisierung insgesamt (Treibriemen, Kabel, Elektrotechnik, Kommunikation...!) wäre anders – und vermutlich langsamer – verlaufen. In anderen Worten: Der technologische und wirtschaftliche Aufschwung des Westens im 19. und 20. Jahrhundert hätte ohne den Kolonialismus in dieser Form nicht stattgefunden. In der Sammlung des Deutschen Museums findet man auch Objekte, die dieses alternative Szenario illustrieren:

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Autor/in

Bernhard Wörrle

Bernhard Wörrle ist promovierter Ethnologe und leitet seit 2013 das digitale Sammlungsmanagementsystem des Deutschen Museums. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt ist koloniales Sammlungsgut.

Sein Tipp für einen Besuch im Deutschen Museum: Die Vorführung in der Ausstellung Chemie anschauen! Unter der Woche täglich live, kostenlos und ohne Anmeldung.