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Nicht nur als fiebersenkendes Mittel war Antipyrin erfolgreich. Geringe Herstellungskosten, hohe Wirksamkeit und die Kombination mit anderen Wirkstoffen machten die Arznei zum Verkaufsschlager. Antipyrin war in aller Munde und leitete einen grundlegenden Wandel der Pharmaindustrie ein.

Wie bereits im ersten Beitrag zur 140-jährigen Geschichte des Antipyrin besprochen, entdeckte Ludwig Knorr, ein junger deutscher Chemiker, 1883 eine Substanz mit bitterem Geschmack. An einem Ersatz für das teure und geschmacklich unangenehme fiebersenkende Mittel Chinin bestand damals ein großes Interesse. Doch Kairin, ein früherer Ersatzstoff, hatte starke Nebenwirkungen und wurde bald nicht mehr genutzt. Knorr entwickelte aus seiner Verbindung das fiebersenkende Medikament Antipyrin, das wirksamer und besser verträglich war. Nach Überwindung bürokratischer Hürden ließ Knorr das Verfahren patentieren, was den Weg für Antipyrin als Medikament bereitete.

Der Erfolg von Antipyrin als fiebersenkendes Medikament

Bereits am 11. Juli 1883 bot Ludwig Knorr dem Leiter der neu eingerichteten Pharmazeutischen Abteilung bei den Farbwerken vorm. Meister Lucius & Brüning in Hoechst die Produktion seines neuen Fiebermittels an, das er nun bereits Antipyrin nannte. Der Name war kein Zufall: Er setzte sich aus den griechischen Wörtern anti (gegen) und pyros (Feuer) zusammen. Als Antipyretika werden allgemein Fiebermittel bezeichnet. Erst später zeigte sich, dass Antipyrin durch die Hemmung der Prostaglandin-Synthese auch eine wertvolle schmerzlindernde Wirkung besitzt.

Die Produktion von “Dr. Knorr’s Antipyrin” begann 1884 in Hoechst und das neue Fiebermittel entwickelte sich ganz im Gegensatz zum Kairin, zu einem großen Erfolg! Antipyrin setzte sich schnell bei den Ärzten und Apothekern als neues Mittel gegen Fieber durch, denn es hatte neben dem deutlich weniger bitteren Geschmack noch einen weiteren sehr entscheidenden Vorteil – es war deutlich preiswerter als Chinin oder Kairin. So schrieb die Bonner Volkszeitung zu Beginn des Jahres 1885: “Das Kilo Antipyrin kostet gegenwärtig 95 Mark und ein Gramm reicht vollständig hin, die Fieberhitze bei einer erwachsenen Person rasch um 3 Grad herabzudrücken. Der Arzt hat es mithin in der Gewalt, die Hitze nicht über eine bestimmte Höhe steigen zulassen, bezw. jederzeit mit sicherem Erfolge gegen das Fieber anzukämpfen. Das Antipyrin wird in Form eines weißen Pulvers hergestellt und ist angenehmer zu nehmen, als Kairin und Chinin.”

Ein neues Zeitalter der Pharmazie: Industrielle Medikamentenproduktion

Die Umsätze mit Antipyrin nahmen von Jahr zu Jahr zu. Waren es 1885 noch 5,9 Tonnen Antipyrin, so konnten die Farbwerke Hoechst 1890 bereits 44 Tonnen des Arzneimittels verkaufen. Ein wichtiger Grund dafür war die sogenannte “Russische Grippe”, eine Grippeepidemie die 1889/1890 in Europa ausbrach und bei der erstmals eine sichere medikamentöse Senkung des hohen Fiebers möglich war. 

Zu beachten ist dabei, dass Antipyrin zwar das erste (oder zumindest das damals bedeutendste) im industriellen Maßstab synthetisch hergestellte Arzneimittel war, aber das Medikament wurde als Pulver an die Apotheken geliefert. Dort wurden dann die gewünschten Mengen z. B. in Form von Pulverbriefchen abgegeben, oder es wurden in der Apotheke sogenannte “Tabulettae Antripyrini” gepresst, die neben Antipyrin-Pulver meist noch Milchzucker enthielten. Oder die Apotheken verkauften das Antipyrin direkt weiter in Form kleiner Pappschachteln. Erst 1904 wurde bei Hoechst die erste Tablettenpresse aufgestellt, und Antipyrin schließlich auch bereits verkaufsfertig in Form von Tabletten an die Apotheken geliefert.

Die allgemeine Begeisterung für das Antipyrin zeigt eindrucksvoll ein Gedicht aus dem Kölner Sonntags Anzeiger vom 12. Januar 1890. Hier die ersten drei Verse:

„Drum sollen tönen Jubellieder
Dir, Götterpulver. Antipyrin!
Das Lebenskraft gab denen wieder,
Die schon begonnen, zu verblüh'n.

War es am Rhein, war's an der Seine
Du halfest allen, Antipyrin!
Ob es die Marthe, ob die Lene
War's in Paris, war's in Berlin.

Früh Morgens steckt man in die Tasche
Vom Götterpulver Antipyrin,
auf daß gelegentlich man nasche
Und Grippenfurcht verließ den Sinn.
Amadeus Gänsekiel

Keine Wirkung ohne Nebenwirkung

Nachdem sich aber auch Berichte über den leichtfertigen Gebrauch, die Nebenwirkungen und den Missbrauch von Antipyrin häuften, durfte Antipyrin ab dem 1. Januar 1892 nur noch auf ärztliche Verordnung in den Apotheken abgegeben werden. Mit der Verschreibungspflicht reagierte man auch auf die nicht immer sachliche Kritik an der neuen Möglichkeit Schmerzen und Fieber mit einem synthetischen Medikament relativ sicher behandeln zu können.

Zu den heute bekannten Nebenwirkungen des Wirkstoffs, der jetzt Phenazon genannt wird, gehören gelegentlich allergische Reaktionen mit Rötungen (Antipyrin-Exantheme), Juckreiz oder Nesselsucht, die in seltenen Fällen auch schwer ausfallen können (allergischer Schock). 

Die Verschreibungspflicht blieb bis 1927 bestehen, konnte aber die Erfolgsgeschichte nicht bremsen. 

„Man glaubt jetzt Wunder der Schmerzstillung mit Antipyrin verrichten zu können. Aber die Störung des Nervensystems durch Einwirkung chemischer Substanzen bleibt nicht ungestraft, man wird bald die verderblichen Folgen dieses Heilmittels zu verzeichnen haben unter dem Sammelnamen des Modelasters des Antipyrinismus. “
Berliner Volksblatt, August 1889

Die Erfolgsgeschichte des Migränins

Bereits 1893 brachte man in Hoechst mit “Dr. Overlach’s Migränin” ein neues Medikament mit dem Wirkstoff des Antipyrins (heute als Phenazon bekannt) in den Verkauf. Neben Antipyrin enthielt es Coffein und Zitronensäure und als Wirkstoffmischung wurde es deshalb zuerst ohne Rezeptpflicht verkauft. Mit großem Werbeaufwand wurde es von den Farbwerken gezielt als Mittel gegen Migräne, aber auch gegen alle Arten von Kopfschmerzen vermarktet. 

„Das Migränin wird ausschließlich dargestellt von den Farbwerken vorm. Meister, Lucius & Brüning in Höchst a. Main. Das Renommee dieser Fabrik bürgt für sorgfältigstes Verfahren bei der Fabrikation, für Reinheit und Gleichmässigkeit der Bestandtheile des Migränin, wovon seine Wirksamkeit abhängt. Es empfiehlt sich daher, von Anfang an bei der Ordination im Recept die Bezeichnung Migränin Höchst zu benutzen.“
Deutsche medizinische Wochenschrift, 1893

Die Anzeigen betonten dabei bewusst, dass doch bitte das in den Farbwerken hergestellte Fertigarzneimittel zu verschreiben sei. So wollte man verhindern, dass die Apotheken selbst Migränin aus den drei Wirkstoffen (Antipyrinum coffeino-citricum) zusammenmischten und billiger verkauften.

Migränin stellte die erfolgreichste Kombination von Antipyrin mit anderen Wirkstoffen dar und wurde über viele Jahrzehnte als Mittel gegen Migräne und andere Indikationen verkauft.

Bereits ab 1898 wurde Migränin deshalb dann auch von den Farbwerken Hoechst in Tablettenform verkauft. Diese Tabletten “in Originalverpackung” (Flacon mit Schutzmarke “Löwe”) sollten neben bequemer Dosierung der beste Schutz gegen Täuschung sein.

1903 wies die Übersicht “Pharmaceutische Produkte der Farbwerke vorm. Meister Lucius & Brüning” neben Migränin auch eine Reihe weiterer Kombinationspräparate mit Antipyrin aus. Hypnal-Hoechst zum Beispiel war eine Verbindung aus Chloralhydrat und Antipyrin und wurde als “mildes, in den meisten Fällen sicherwirkendes Schlafmittel” beschrieben. 

Antipyrin als Startpunkt der modernen Pharmaindustrie

Aufgrund seines großen kommerziellen Erfolgs wurde Antipyrin zum Startpunkt der heutigen Pharmaindustrie und markiert den Beginn eines Wandels in der chemischen Industrie, da sich die chemische Herstellung von Medikamenten zum zweiten und vor allem auch lukrativen Arbeitsgebiet neben der Farbenproduktion entwickelte. 

Mit Antipyrin hatte sich erstmals ein synthetisch hergestelltes Arzneimittel als wertvolle Bereicherung des Arzneischatzes erwiesen. Wie wertvoll Antipyrin wirklich war, zeigte sich jedoch erst in den folgenden Jahrzehnten – es wurde zum Vorbild für andere Firmen und zum Ausgangspunkt für die Entwicklung weiterer, noch potenter Medikamente, über die in einem weiteren Blogbeitrag zu berichten sein wird. Und selbst heute, 140 Jahre nach der Markteinführung ist der Wirkstoff des Antipyrins unter seinem heute gebräuchlichen Namen Phenazon immer noch im Handel und als Schmerzmittel bei leichtem bis mäßigem Schmerz erhältlich. 

Autor/in

Florian Breitsameter

Dr. Florian Breitsameter hat Chemie studiert und ist Kurator für Pharmazie und Medizintechnik am Deutschen Museum. Er entwickelte die Ausstellung »Gesundheit« und forscht u.a. zu Holzstandgefäßen in deutschen Apotheken und der Geschichte der Sulfonamide.

Sein Tipp für einen Besuch im Deutschen Museum: Die Historische Apotheke in der Ausstellung Gesundheit mit wunderschönen und wertvollen Apothekengefäßen, die u.a. Asseln, Rocheneier, getrocknete Kröten und Unicornum verum – echtes Einhorn – enthalten!