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Heute ist es für uns völlig normal, dass wir in den Apotheken Arzneimittel bekommen und kaufen können, die industriell produziert wurden. Die Regale sind voller Medikamente, die verkaufsfertig von der Pharmaindustrie geliefert werden. Nur noch selten werden z. B. Salben in der Apotheke selbst angemischt. Aber seit wann gibt es eigentlich Medikamente von der Pharmaindustrie? Und wie wurde Antipyrin vor 140 Jahren entdeckt?

Ein bitterer Anfang

Als im Jahr 1883 der erst 24 Jahre alte deutsche Chemiker Ludwig Knorr (1859-1921) bei einem seiner Versuche mit Phenylhydrazin ein gelblich-weißes, kristallines Pulver erhielt, machte er etwas, was in den Chemielabors damals durchaus nicht unüblich war – er probierte vorsichtig ein klein wenig davon. Die Substanz schmeckte ungewöhnlich bitter. Erste Tests mit der neuen Substanz bestärkten Knorr in der (wie wir heute wissen falschen) Vermutung, dass er eine dem Chinin chemisch verwandte neue Verbindung erhalten hätte.

Chinin, das aus der Rinde des in Südamerika heimischen Chinarindenbaums (Cinchona) gewonnen wird, war damals nicht nur die wirksamste Arznei gegen Fieber, sondern auch das einzig bekannte Mittel gegen Malaria. Reines Chinin war aber zum einen sehr teuer (Chinarinde musste importiert werden und Chinin aufwendig extrahiert werden) und zum anderen hat es einen sehr unangenehmen bitteren Geschmack. Man griff also bei hohem Fieber oftmals lieber zu anderen Methoden. Wenn einfache Umschläge mit nassen Leintüchern nicht mehr halfen, badete man z. B. die Erkrankten in 16-18° C kaltem Wasser um sie abzukühlen, und gab ihnen Wein und schwarzen Kaffee zu trinken, damit sie dabei nicht kollabierten.

Die Suche nach einem Chinin-Ersatz

Chinin in reiner Form herzustellen, was etwa seit 1820 möglich war, war damals außerdem ein sehr gutes Geschäft – ein Gramm Chinin kostete 1883 etwa 150 bis 200 Reichsmark. Heute kennen wir Chinin vor allem noch als Bitterstoff im Indian Tonic Water oder in Bitter Lemon der Firma Schweppes.

Kein Wunder also, dass Ludwig Knorr hoffte, mit seinem bitteren Kristallpulver einen Ersatz für das Chinin als fiebersenkendes Mittel gefunden zu haben. Denn ein anderer chemisch gewonnener Stoff hatte sich kurz zuvor bereits als wirksam bei Fieber gezeigt: Kairin. Otto Fischer (1852-1932) hatte das 1-Methyl-1,2,3,4-tetrahydrochinolin-8-ol (Oxymethyltetrahydrochinolin) 1881 synthetisiert und der Pharmakologe Wilhelm Filehne (1844-1927) hatte seine Wirkung untersucht. Bereits 1883 begannen die Farbwerke vorm. Meister Lucius & Brüning in Frankfurt Hoechst mit der Produktion.

Das Problem: Kairin hatte zwar eine stark fiebersenkende Wirkung, aber diese hielt nur kurze Zeit an. Außerdem zeigten sich oftmals starke Nebenwirkungen wie Schüttelfrost und Sauerstoffmangel. Ersetzen konnte Kairin das Chinin als Mittel erster Wahl gegen hohes Fieber also nicht, und so war es nie sehr erfolgreich und verschwand schon nach wenigen Jahren wieder aus dem Handel.

Was schmeckte da überhaupt so bitter?

Aber welches chemische Produkt hatte der junge Ludwig Knorr bei dieser Reaktion überhaupt erhalten? Knorr war damals Assistent von Professor Emil Fischer (1852-1919), der wenige Jahre zuvor das Phenylhydrazin als Reagenz entwickelt hatte und 1902 mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt wurde. Er hatte die Erlaubnis seines Doktorvaters erhalten eigene Versuche mit Phenylhydrazin durchzuführen. 

Knorr setzte Acetessigester mit Phenylhydrazin um (siehe die folgende Reaktionsgleichung, die durch Klick auf das Bild erscheint). Unter Abspaltung von Wasser und Ethanol entstand so eine Verbindung, die in Form gelblich-weißer Kristalle aus der Lösung ausfiel und neben dem bereits erwähnten bitteren Geschmack eine schlechte Wasserlöslichkeit zeigte. Da 1883 die heute wichtigsten analytischen Methoden der Chemie (Infrarot-Spektroskopie, NMR-Spektroskopie und Massenspektrometrie) noch nicht erfunden waren, rätselte Knorr vorerst darüber, welche Verbindung er da genau erhalten hatte.

Eine Elementanalyse ergab die Summenformel C10H10N2O, aber eine genaue Molekülstruktur konnte er damals nicht liefern, was seine Vermutung einer strukturellen Ähnlichkeit mit dem Chinin verständlicher macht. Die Molekülstruktur des Chinins beschäftigte die Chemiker sehr lange, und erst der Hamburger Chemiker Paul Rabe (1869-1952) konnte 1908 die korrekte Strukturformel des Chinins ermitteln (aber das ist Thema für einen anderen Artikel). 

Die Reaktion, die hier abgelaufen war, wurde später auch zur Grundlage für die als »Knorr-Pyrazol-Synthese« bezeichnete Namensreaktion, die es erlaubt mit Hilfe von Hydrazinen Pyrazole darzustellen.

Der Weg zum Erfolg

Ludwig Knorr schickte Proben seiner Verbindung an den oben genannten Wilhelm Filehne, der bereits das Kairin getestet hatte. Das Ergebnis war jedoch enttäuschend, denn es ließ sich nur eine schwach fiebersenkende Wirkung feststellen. Aber Filehne hatte einen Vorschlag: Vielleicht würde das Hinzufügen einer Methylgruppe die Wirkung verstärken? 

Ludwig Knorr machte sich sofort ans Werk und setzte die Verbindung – korrekt als 1-Phenyl-3-Methylpyrazolon zu benennen – mit Iodmethan um und erhielt tatsächlich sehr einfach das methylierte Produkt 1-Phenyl-2,3-Dimethylpyrazolon (siehe die folgende Reaktionsgleichung, die durch Klick auf das Bild erscheint).

Die später als Antipyrin vermarktete chemische Substanz war nicht nur viel besser in Wasser löslich. Filehne konnte in Tierversuchen und auch beim Menschen auch eine deutlich stärkere fiebersenkende Wirkung feststellen. Aber vor allem war das Mittel verträglicher als Kairin.

Der Weg zur Patentierung

Das Ziel war diese Substanz genauso wie das Kairin schnell als Ersatzarzneimittel für Chinin auf den Markt zu bringen. Dafür wollte Ludwig Knorr seinen Syntheseweg patentieren lassen, doch da er zu diesem Zeitpunkt noch als Assistent an der Universität arbeitete, musste er die Erlaubnis von Prof. Emil Fischer einholen. Emil Fischer lehnte dies erst einmal rundweg ab. Ein Kollege riet Knorr daraufhin es noch einmal zu probieren – aber diesmal nachmittags, wenn Emil Fischer gegessen und vom Mittagsschlaf ausgeruht war. Tatsächlich stimmte Emil Fischer der erneuten Anfrage zu, allerdings mit der Bedingung, dass das Patent nicht die weitere Erforschung der grundlegenden Reaktion des Phenylhydrazins mit einem Keton behindern würde.

Am 21. Juli 1883 reichte Ludwig Knorr den Syntheseweg beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin als Patent ein (»Verfahren zur Darstellung von Oxypyrazolen durch Einwirkung von Acetessigestern, ihren Substitutionsproducten und Homologen auf Hydrazine.«). Das Patent wurde am 8. März 1884 erteilt.

Ludwig Knorrs Wunsch nach einer finanziellen Verwertung seiner Entdeckung hatte übrigens ganz praktische Gründe. Wie er seinem Kollegen Hermann Reisenegger in einem Gespräch mitteilte, erhoffte er sich von diesem Patent »eine Beihilfe zum Hausstand«. Deshalb könne er den »materiellen Standpunkt nicht ganz außer Acht lassen«. Denn wenig später heiratete er Elisabeth Piloty, die Schwester von Oskar Piloty, einem Laborkollegen aus seiner Zeit an der Universität München. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Was er damals nicht ahnen konnte: Dieses Patent war nicht nur eine »kleine Beihilfe«, sondern das Antipyrin machte aus Knorr in den folgenden Jahren einen reichen Mann. 

 

Autor/in

Florian Breitsameter

Dr. Florian Breitsameter hat Chemie studiert und ist Kurator für Pharmazie und Medizintechnik am Deutschen Museum. Er entwickelte die Ausstellung »Gesundheit« und forscht u.a. zu Holzstandgefäßen in deutschen Apotheken und der Geschichte der Sulfonamide.

Sein Tipp für einen Besuch im Deutschen Museum: Die Historische Apotheke in der Ausstellung Gesundheit mit wunderschönen und wertvollen Apothekengefäßen, die u.a. Asseln, Rocheneier, getrocknete Kröten und Unicornum verum – echtes Einhorn – enthalten!

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