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Mit etwas Glück kann man am Mittelmeer nicht nur schöne Strände und Erholung finden, sondern auch sogenannte Meerbälle. Aber was haben die braunen, filzigen Dinger mit der Sammlung Pharmazie im Deutschen Museum zu tun? Warum wurden sie an den Stränden eingesammelt und von Händlern an Apotheken in Deutschland verkauft? Diese Geschichte beginnt am Strand der griechischen Insel Kos.

Es war unser vorletzte Tag des Familienurlaubs auf einer griechischen Insel. Da das Wetter mal ausnahmsweise etwas windig war, gingen wir am Strand entlang, genossen die leichte Brise und schauten auf’s Meer hinaus.

Und plötzlich spülte eine Welle etwas an den Strand, das ich als Kurator für Pharmazie ansonsten bislang nur aus dem Depot des Museums kannte. Also gleich mal den Fotoapparat gezückt und ein Foto gemacht.

Was da an den Strand geschwemmt wurde, ist ein sogenannter Meerball (lateinisch Pilae marinae, andere Namen dafür sind auch Neptunball oder Seeball). So ein Meerball muss keine perfekte Kugel sein, sondern kann auch mal eher wie ein etwas flachgedrückter Krapfen oder ein runder Diskus aussehen. Wenn man dieses Strandfundstück in die Hand nimmt und es genauer betrachtet, merkt man schnell, dass dieses Gebilde aus lauter verfilzten Fasern besteht, oftmals sind auch kleine Muschelbruchstücke und Sandkörner mit eingebettet – und das Ganze ist, wenn es frisch aus dem Meer kommt, natürlich durchtränkt von Salzwasser.

Aber was ist so ein Meerball überhaupt?

Eine sehr schöne Übersicht über die frühen Theorien zur Entstehung der Meerbälle liefert das Werk »Museum Museorum, Oder Vollständige Schau-Bühne Aller Materialien und Specereyen« von Michael Bernhard Valentini aus dem Jahr 1704.

So wurde u.a. vermutet, dass sie nichts Anderes, als »mit vielen See-Hunds-Haaren, Sand, Muscheln und dergleichen vermischter Meerschaum, welchen die Einwohner zu Ballen machten« seien. Gegen diese verwegene Theorie sprach aber ganz klar die Beobachtung, dass diese Bälle von den Wellen ans Ufer getrieben wurden – und sie nicht von den fleißigen Küstenbewohnern geformt wurden. Ein anderer Erklärungsversuch hielt sie für eine besondere Art eines Meeresschwammes. Nachzulesen ist auch, dass die Bälle auch »in dem Magen eines gewissen Fisches oder anderen Thiers im Meer gezeuget würden«, in dem sich dort unverdauliche Seealgenreste zu einem solchen Ball verfilzen.

Oder waren diese Bälle gar die Exkremente eines »Seekalbs oder dem Meerochsen«, wie andere schrieben?

Damals wurde jedoch auch schon die Vermutung präferiert, die sich letztlich als richtig herausstellte: Meerbälle bestehen aus nichts anderem als den Fasern von Seegräsern, genauer gesagt aus dem faserigen Rhizom (Wurzelgeflecht) der Seegräser. Durch die Wellenbewegungen und die Strömung unter Wasser wird das Rhizomgeflecht zerrissen und diese losen Fasern verfilzen dann langsam bis schließlich eine Kugelform entsteht – so ähnlich wie sich aus losen Haaren und Stofffasern in der Wohnung unter dem Sofa durch den leichten Luftzug langsam Wollmäuse bilden. 

Bei starkem Seegang werden diese Kugeln dann an Land gespült und verwundern die Touristen.

Und warum gibt es Meerbälle in der Sammlung Pharmazie?

Prinzipiell kann man sagen, dass fast alles, was in der Natur zu finden ist, irgendwann auch einmal in der Medizin eingesetzt wurde. Davon zeugt auch sehr schön die Sammlung Pharmazie, in der viele Dinge zu finden sind, die man dort nicht unbedingt vermuten wurde, so u.a. auch Schwalbennester, Hechtkiefer und ein Glas voller Sprungknochen von Hasen. Der dahinterstehende Glaube war, dass alles, was auf der Erde zu finden ist, auch den Menschen als Arzneimittel dienen kann. Und so finden sich auch Meerbälle in der Sammlung (Inv.-Nr. 2019-498).

Schon im 17. Jahrhundert fanden sich deshalb auch zahlreiche Rezepte für die Herstellung von Kropfpulvern, in denen eben u.a. auch Meerbälle Verwendung fanden. Damals wurden diese von deutschen Apotheken vor allem von Händlern aus Venedig bezogen. Hier ein typisches Rezept dafür aus dem »Dispensatorium Pharmaceuticum Austriaco-Viennense« (Seite 169) aus dem Jahr 1729.

Alle Rezepte wurden damals in lateinischer Sprache verfasst – deshalb hier eine Übersetzung:

Kropfpulver
 

Verkohlter Meerschwamm

Gerösteter Meerball

Schwarzer langer Pfeffer

Sepiaknochen

Ingwer

Zimt

Steinsalz

Bertramwurzel

Galläpfel

Schwammstein (Kalkgerüst von Naturschwämmen)

zu einer Unze (entspricht etwa 30 g)

Zu Pulver verarbeiten und gut vermischen

Für die Behandlung des Kropfes wurde eine wiederholte Anwendung empfohlen (übliche Dosierungen war z.B. zweimal täglich einen Kaffeelöffel voll).

Half dieses Pulver aber überhaupt bei einem Kropf?

Ein Kropf, medizinisch auch Struma genannt, ist eine Vergrößerung der Schilddrüse. Die Schilddrüse ist eine kleine, schmetterlingsförmige Drüse im Hals, die Hormone produziert, die den Stoffwechsel regulieren. Ein Kropf kann aus verschiedenen Gründen entstehen und variiert in seiner Ausprägung.

Die häufigste Ursache für einen Kropf weltweit ist Jodmangel (aber es gibt auch andere Gründe). Jod ist ein essentielles Element für die Produktion von Schilddrüsenhormonen. Ein Mangel an Jod führt dazu, dass die Schilddrüse vergrößert wird, um mehr Hormone produzieren zu können. Bei Jodmangel kann deshalb die Erhöhung der Jodzufuhr helfen, z.B. durch Jodsalz oder Nahrungsergänzungsmittel.

Der Tagesbedarf einer erwachsenen Person in Deutschland liegt bei etwa 180 bis 200 Mikrogramm pro Tag, eine Tagesdosis von mehr als 500 Mikrogramm sollte jedoch nicht überschritten werden.

Und hier kommen nun die Meerballen (und der verkohlte Meerschwamm) ins Spiel – beide enthalten relativ viel Jod. In normalen Algen liegt Jod z.B. in Form von anorganischen Jodsalzen und organisch an Proteine gebunden vor, es werden hier Werte von etwa 5 g Jod pro Kilogramm Alge erreicht! Für Meerballen waren leider in der Literatur keine Werte für den Jod-Gehalt zu ermitteln, sie dürften sich aber in einem ähnlichen Rahmen bewegen (es dürfte vor allem Natriumiodid vorliegen).

War das Kropfpulver (Pulvis strumalis) also ein wirksames Mittel gegen einen Kropf? Das ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Zum einen kann ein Kropf auch andere Ursachen haben, bei denen eine verstärkte Jodzufuhr sogar schädlich sein kann. Zum anderen ist eine kurzfristig verstärkte Jodzufuhr bei Jodmangel zwar sicher hilfreich, aber natürlich keine dauerhafte Lösung. Es ist immer wichtig die genauen Ursachen abzuklären und eine darauf genau abgestimmte Behandlung vorzunehmen.

Das aus Meerballen gewonnene Kropfpulver verlor im 19. Jhd. zunehmend an Bedeutung, was vor allem mit einer Entdeckung des Franzosen Bernard Courtois (1777- 1838) zu tun hatte. 1811 isolierte er bei seinen Untersuchungen zur Veraschung von Braunalgen das chemische Element Jod. Für die Herstellung von Schmierseife war Pottasche (Kaliumcarbonat) nötig, das mit Fetten und Ölen reagiert und Kaliumsalze der Fettsäuren bildet. Die von Courtois aus der Algenasche gewonnene Lauge bildete mit Schwefelsäure beim Erhitzen aber violette Dämpfe, die an kälteren Oberflächen in Form von kristallinem Jod sublimierten. 

Und schon bald darauf konnte Natriumiodid für die Kropfbehandlung direkt chemisch gewonnen werden – der Umweg über die Meerballen um Jod zuzuführen war unnötig geworden.

Aber Meerballen als Naturprodukt können auch eine andere Verwendung finden. So bietet eine deutsche Firma seit vielen Jahren eine Wärmedämmwolle für die Hausdämmung an, die aus gesammelten, getrockneten und aufbereiteten Meerbällen gewonnen wird. So wird aus diesem für Badeurlauber manchmal etwas störendem Naturprodukt (wenn sich die Meerbälle nach einer stürmischen See am Strand ansammeln) ein nachhaltiges und hochwertiges Produkt für die Wärmeisolierung.

Falls Sie also in diesem Jahr am Meermittel Urlaub machen, halten Sie doch einfach mal Ausschau nach diesen kleinen, brauen, etwas filzigen Meerbällen, die zwar nicht mehr als Arznei genutzt werden, aber jetzt eine neue Verwendung gefunden haben! Übrigens, auch Muschelschalen fanden natürlich ihre Anwendung in der Apotheke. Aber das ist jetzt eine andere Geschichte…

Autor/in

Florian Breitsameter

Dr. Florian Breitsameter hat Chemie studiert und ist Kurator für Pharmazie und Medizintechnik am Deutschen Museum. Er entwickelte die Ausstellung »Gesundheit« und forscht u.a. zu Holzstandgefäßen in deutschen Apotheken und der Geschichte der Sulfonamide.

Sein Tipp für einen Besuch im Deutschen Museum: Die Historische Apotheke in der Ausstellung Gesundheit mit wunderschönen und wertvollen Apothekengefäßen, die u.a. Asseln, Rocheneier, getrocknete Kröten und Unicornum verum – echtes Einhorn – enthalten!

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