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Die Kernenergie war eine der prägenden Technologien des 20. Jahrhunderts. Das zeigt sich unter anderem in Begriffen wie dem "Atomzeitalter". Für einige Gesellschaften scheint diese Epoche nun zu Ende zu gehen. Doch was geschieht nach dem Atomausstieg? Welche sozialen, ökologischen und politischen Folgen ergeben sich für heutige Gesellschaften?

Solche Fragen stehen im Zentrum eines Themas, das im Forschungsbereich des Deutschen Museums in München untersucht wird. Ein zentraler Forschungsschwerpunkt liegt in der Untersuchung der vielfältigen und oft unvorhergesehenen Entwicklungen, die aus dem Zusammenspiel von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft hervorgehen. Die Forschenden am Institut analysieren, wie technologische Innovationen vergangene Lebenswelten und Gemeinschaften geprägt haben – und wie diese Technologien bis heute auf unsere Gesellschaften einwirken.

In Kooperation mit der Carl Friedrich von Siemens Stiftung lud das Forschungsinstitut des Deutschen Museums Wissenschaftler:innen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften zu dem internationalen und interdisziplinären Workshop “Post-Atomic Formations” ein, um die vielschichtigen Hinterlassenschaften des Atomzeitalters zu diskutieren. Vor der winterlichen Kulisse von Schloss Nymphenburg bot die Carl Friedrich von Siemens Stiftung einen Rahmen, der konzentriertes Nachdenken und offenen Austausch begünstigte – ein idealer Ort, um über die langen Nachwirkungen der Kernenergie zu reflektieren.

Die Erforschung des "Post-Atomaren"

Auch nach dem Ende der Kernenergie bleiben Fragen, auf die wir bislang keine ausreichenden Antworten haben: Was geschieht, wenn sich Gesellschaften – wie Deutschland – für einen Atomausstieg entscheiden? Zwar werden Reaktoren abgeschaltet, Anlagen rückgebaut und Landschaften saniert, doch das Atomzeitalter wirkt weiterhin in unsere Gegenwart hinein.

Als Forschende, aber auch als Bürger:innen, sehen wir uns zunehmend mit einer einfachen, zugleich beunruhigenden Frage konfrontiert: Was bedeutet es, mit nuklearen Technologien zu leben, nachdem sie scheinbar beendet sind?

Stilllegung nuklearer Anlagen: Mehr als ein technischer Prozess

Im Zentrum der Forschung zum Ende des Atomzeitalters steht die Stilllegung – der Prozess, bei dem kerntechnische Anlagen außer Betrieb genommen und ihre Infrastrukturen rückgebaut werden. Obwohl Stilllegung häufig in technischen Begriffen beschrieben wird, ist sie alles andere als ein rein technischer Vorgang.

Aus historischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive handelt es sich um einen zutiefst sozialen, politischen und kulturellen Prozess. Er verändert Gemeinschaften, die einst von kerntechnischen Anlagen abhängig waren, verändert durch Kontamination oder Risikozuschreibungen geprägte Landschaften und wirft grundlegende Fragen nach Verantwortung, Sicherheit und Zeit auf. Radioaktiver Abfall verschwindet nicht – er erfordert eine langfristige Betreuung und Kontrolle, die weit über eine einzelne Generation hinausreichen.

Warum Stilllegungen erforschen?

Für Forschende in den Geisteswissenschaften und im musealen Kontext ist die Stilllegung kein bloßer Endpunkt. Sie markiert den Beginn einer neuen Phase des Atomzeitalters. Die Untersuchung von Rückbau, Regulierung und Erinnerungskulturen nuklearer Standorte macht sichtbar, wie tief nukleare Technologien auch nach ihrer offiziellen Abschaltung in Gesellschaften verankert bleiben.

In unserer Forschung befassen wir uns unmittelbar mit Fragen von großer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Bedeutung – für uns ebenso wie für zukünftige Generationen:

  • Was geschieht mit Orten, nachdem nukleare Infrastrukturen rückgebaut werden?
  • Wie werden Expertise, Autorität und öffentliches Vertrauen im Rückbauprozess ausgehandelt?
  • Wer entscheidet, wann ein Standort wieder als “sicher” gilt?
  • Wie werden nukleare Hinterlassenschaften erinnert, verdrängt oder in kulturelles Erbe überführt?

Sind wir wirklich "post-atomar"?

Eine der zentralen Fragen des intensiven zweitägigen Workshops war, ob der Begriff “post-atomar” überhaupt angemessen ist. Während einige Länder kerntechnische Anlagen zurückbauen, verlängern andere deren Laufzeiten oder entwickeln neue nukleare Technologien. Gleichzeitig prägen Endlager für radioaktive Abfälle, ehemalige Bergbauregionen und lang etablierte wissenschaftliche Institutionen weiterhin politische Debatten und ökologische Realitäten.

Selbst wenn ein Kernreaktor heute nicht mehr Teil der Landschaft ist, hat seine frühere Präsenz die infrastrukturellen, sozialen, politischen und wissenschaftlichen Bedingungen lokaler Gemeinschaften nachhaltig geprägt. Anstelle eines klaren „Danach“ haben wir es mit post-atomaren Formationen zu tun – Konstellationen, in denen Rückbau, langfristige Risiken, Erinnerungskulturen und neue technologische Versprechen nebeneinander bestehen. Die Stilllegung macht diese Spannungen besonders sichtbar.

Austausch, Forschung und Gespräch

Der Workshop “Post-Atomic Formations” reichte über die formalen Sitzungen hinaus und setzte sich bei gemeinsamen Mahlzeiten fort – unter anderem bei einem Abend im Königlichen Hirschgarten. Entscheidend war letztlich die gemeinsame Erkenntnis, dass das Ende der Kernenergie kein einmaliger Akt ist, sondern ein fortlaufender gesellschaftlicher Prozess.

Nukleare Hinterlassenschaften betreffen uns alle

Museen wie das Deutsche Museum spielen eine zentrale Rolle dabei, nukleare Hinterlassenschaften sichtbar zu machen. Sie bewahren Objekte und Geschichten technologischer Innovationen und bieten zugleich Räume zur Auseinandersetzung mit langfristigen Folgen, Unsicherheit und Verantwortung.

Die Beschäftigung mit der Stilllegung nuklearer Anlagen hilft uns, Technik nicht nur als Fortschritt zu verstehen, sondern als einen Prozess, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dauerhaft miteinander verbindet. Die Frage, was von der Kernenergie bleibt, ist daher nicht nur eine wissenschaftliche – sie betrifft uns alle.

Autor/in

Astrid Mignon Kirchhof

Astrid Mignon Kirchhof ist Historikerin für Deutsch-Deutsche-Geschichte, Umwelt- und Technikgeschichte. Derzeit ist sie als Scholar in Residence am Deutschen Museum.

Ihr Tipp für einen Besuch im Deutschen Museum: Erkunden sie die historische Sammlung des Museums. Viele Objekte und Exponate offenbaren unerwartete Geschichten über den Alltag und technologischen Wandel.