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Erforschung von Spezialrechenschiebern der Jahre 1871–1945

Unscheinbare Sammlungsobjekte mit großer Wirkung: Zu dem Bestand an Rechenschiebern des Deutschen Museums gehören insgesamt mehr als 2000 Objekte unterschiedlicher Hersteller und unterschiedlicher Funktion.

Als ein Arzt, Oskar Maria Graf zu Zeiten des Ersten Weltkrieges fragte, was er erhielte, wenn er ein Apfelviertel halbiere, musste der Bayerische Schriftsteller nach angestrengtem Nachdenken passen. Graf, der immerhin noch eine Antwort auf die Frage gewusst hatte, was zwei und zwei ist, erhielt kurzerhand die Diagnose: „I.“. Ausgemustert als „Idiot“ blieb ihm die Rückkehr an die Front erspart. Stattdessen wurde er in die „Irrenanstalt“ gebracht, aus der er jedoch bald als Zivilist entlassen wurde.

Diese Episode aus Grafs Leben, die er in seinem Buch „Wir sind Gefangene“ mitteilt, spielt in einer Zeit, in der Kalkulationen das Leben der Menschen auf Schritt und Tritt begleiteten. Nicht zuletzt in den Jahren der Hochindustrialisierung 1871–1914 fanden mathematische Methoden in mehr und mehr Gewerben und Disziplinen Eingang. Von dieser Entwicklung zeugt eine umfassende Sammlung von Spezialrechenschiebern, die sich am Deutschen Museum befindet. Sie wird zur Zeit in einem Forschungsprojekt im Rahmen des Scholar in Residence-Programms erforscht.

1920er Jahre

Die meisten Objekte der Sammlung stammen aus dem Nachlass der Firma Dennert & Pape, der nach 2002 auf die Museumsinsel kam. Nachdem der Deutsch-Französische Krieg alte Bezugsquellen versiegen ließ, begann das Hamburger Unternehmen 1872 mit der Produktion von Rechenschiebern aus Buchsbaum. Mit großem Erfolg vertrieb die Firma bald europaweit eine breite Palette an Geräten unter den Markennamen „Dupa“ und „Aristo“. Das Sortiment des Unternehmens umfasste auch diverse Sonderanfertigungen. Zu diesen Geräten zählt etwa der Arbeitszeitrechenschieber System Monnard aus den 1920er Jahren.

Im Gegensatz zu universellen Rechenschiebern, deren Herstellung bei Dennert & Pape bis zur Einstellung der Produktion 1978 fortdauerte, wurden solche Spezialgeräte zur Auflösung fest umrissener Aufgaben hergestellt. Anstatt als Hilfsmittel bei der Rechnung mit Stift und Papier zu dienen, erübrigten sie jedwede Kalkulationen. Mit einem passenden Rechenschieber ließen sich die gesuchten Werte allein durch das mechanische Verschieben einiger Zungen mit Skalen ermitteln. Die Entwicklung und Einführung von Spezialrechenschieber erleichterte die Bearbeitung wiederkehrender Aufgaben erheblich. In den Jahrzehnten um 1900 wurden sie zu wichtigen Begleitern bei der Arbeit vieler Menschen.

Von Lebensmittel bis zu Motoren

Zu dem Bestand des Deutschen Museums gehören insgesamt mehr als 2000 Objekte unterschiedlicher Hersteller und unterschiedlicher Funktion. Darunter befindet sich der Kanalisations-Rechenstab System Vikari, der bei der Planung städtischer Abwassersysteme half. Andere Geräte erleichterten die Milchanalyse in den Molkereien, die Trassierung für Eisenbahnstrecken, die Bestimmung der Malzausbeute in Brauereien und die Dimensionierung von Schiffsmotoren.

Spezialrechenschieber ergänzten und ersetzten in der Praxis häufig die Arbeit mit Tabellen und grafischen Tafeln. Gegenüber unhandlichen Tafelwerken besaßen sie unübersehbare Vorzüge, die nicht zuletzt bei der Arbeit im Freien, wo Geometer die Landschaft vermaßen und Artilleristen ihre Geschütze in Stellung brachten, zur Geltung kamen. Die Handhabung der Geräte, das richtige Einstellen der Zungen und das Ablesen der Skalen, erforderte Übung. In den allermeisten Fällen dauerte es allerdings nur wenige Stunden, die Bedienung zu erlernen. Mathematische Kenntnisse waren für die Arbeit mit den Rechenschiebern nicht erforderlich. Wer mit den Geräten vertraut war, konnte unterdessen viel Zeit sparen. In wenigen Sekunden fand der Artillerieoffizier mit seinem Rechenschieber die Winkel zur Ausrichtung seines Geschützes. Nicht viel mehr Zeit benötigte der Kriegschirurg im Lazarett, wenn er mit seinem Schieber die genaue Postion von Schrapnellen und Projektilen berechnete um das Messer bei einer Operation an der richtigen Stelle anzusetzen, oder aber auch um herauszufinden, wer mit seinen Beschwerden „übertrieb“. Nicht nur über das Schicksal des Schriftstellers Oskar Maria Graf entschieden Rechenaufgaben.

Mathematische Methoden

Die Sammlung des Museums erzählt, wie mathematische Methoden Tätigkeiten und Berufe durchdrangen. Sie gibt Einblicke in die Motive und Probleme, die damit verbunden waren. Die Entwicklung spezieller Rechenschieber, aber auch die Konzeption von Tabellen und Tafeln, war unumgänglich, um wissenschaftliche Methoden in den jeweiligen Branchen zu etablieren. Um die Arbeit in den Büros und Betrieben an die Ergebnisse von Kalkulationen und Normwerte zu binden, brauchte es passende Instrumente. Frederick Taylor (1865–1915) erblickte in der Entwicklung und Einführung von Rechenschiebern ein entscheidendes Mittel, um seine Idee des „Scientific Managements“ in den Unternehmen zu verwirklichen. Mit den Geräten wollte er die Arbeit an den Drehbänken der Kontrolle des Managements unterwerfen.

Für die historische Forschung ist die Sammlung des Deutschen Museums deshalb ein toller Fund. Sie gewährt Auskunft über Prozesse, die sich meist im Verborgenen abspielten, die Arbeit in vielen Bereichen aber von Grund auf umwälzten. Spezialrechenschieber trieben die Substitution handwerklicher Arbeitsweisen durch rationelle Methoden voran. So bildeten sie ein wichtiges Glied bei der Anwendung von Mathematik in der professionellen Praxis. Die Entstehungsgeschichten der Objekte führen uns zu den Protagonisten dieser Prozesse. Sie berichten auch von den Überlegungen, Diskussionen und Debatten, die mit der Einführung mathematischer Normen und Methoden in die Arbeit verbunden waren.

Mathematik

Autor/in

Hannes Junker

Hannes Junker hat an der Martin-Luther-Universität in Halle Mathematik studiert. Nach dem Abschluss seiner Promotion über „Anschauungsmodelle in der mathematischen Forschung deutscher Gelehrter 1860--1877“ forscht er derzeit als Scholar in Residence am Deutschen Museum.

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