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Die erfolgreiche Behandlung von Erkrankungen ist ein bedeutender Schritt für ein langes und gesundes Leben. Von der Kopfschmerztablette über die Schutzimpfung bis zur Tumortherapie – fast alle Arzneimittel, die bisher zugelassen wurden, funktionieren nach demselben Prinzip: Der Wirkstoff des Arzneimittels bindet an ein Zielmolekül, das Target, und modifiziert seine Funktion. Doch längst nicht alle Erkrankungen können so geheilt bzw. behandelt werden. Beispiele sind Krankheiten, bei denen sich das molekulare Ziel ständig verändert (z.B. HIV/AIDS) oder das Zielmolekül für den Wirkstoff nicht zugänglich ist (z.B. muss bei Alzheimer die Blut-Hirn-Schranke überwunden werden). Ändern könnten das multispezifische Moleküle – das sind Moleküle, die Verbindungen mit zwei oder mehr Proteinen eingehen können.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Reihe zur Nano- und Biotechnologie und ist entstanden in Zusammenarbeit mit der Amgen GmbH. Das Biotechnologieunternehmen mit Sitz in München unterstützt als Partner den Bereich Nano- und Biotechnologie im Deutschen Museum. Amgen forscht zu multispezifischen Molekülen.

Das Konzept der induzierten Nähe in der Arzneimittelentwicklung

Alles beginnt zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Einführung von Aspirin als erstes chemisch synthetisiertes Schmerz- und Fiebermittel. Wie und warum es wirkt, ist damals aber weitgehend unbekannt. Im Verlauf der 1970er Jahre wird das von dem deutschen Chemiker Emil Fischer bereits 1894 aufgezeigte Schlüssel-Schloss-Prinzip systematisch auf die Arzneimittelforschung übertragen. Dabei dockt das Wirkstoff-Molekül an dasjenige Molekül, das die Erkrankung auslöst, und verändert dessen Aktivität. So können Wirkstoffmoleküle gezielt auf bestimmte Proteine oder Enzyme ausgerichtet werden, deren Fehlfunktionen Krankheiten auslösen. In den 1980er Jahren setzt die biotechnologische Revolution ein: Dank der rekombinanten DNA-Technologie, bei der aus DNA-Fragmenten unterschiedlicher Herkunft neue, im Labor erzeugte DNA-Moleküle zusammengesetzt werden, können Forscher erstmals Therapeutika auf Basis von Proteinen, Antikörpern und anderen Großmolekülen herstellen. Diese biologischen Arzneimittel eröffnen völlig neue Behandlungsansätze, die weit über die klassischen kleinmolekularen Wirkstoffe hinausgehen. Viele Erkrankungen wie Krebserkrankungen oder multiple Sklerose können so besser behandelt werden - doch längst nicht alle. Das Prinzip ist dabei immer gleich: Ein Molekül, der Wirkstoff des Arzneimittels, bindet an ein Zielmolekül (auch Target genannt), sodass dieses seine normale Funktion verändert.

Das ändert sich mit den multispezifischen Molekülen, die unsere Vorstellung von der Wirkungsweise von Arzneimitteln grundlegend verändern. Anstatt ein einzelnes Target zu blockieren oder zu aktivieren, verknüpfen sie zwei oder mehrere Proteine oder zelluläre Prozesse, um neue Therapieansätze zu ermöglichen. Zu den multispezifischen Molekülen gehören auch Strukturen, die als molekulare Vermittler fungieren: Sie wirken nicht auf das Zielmolekül ein, sondern bringen das Target und solche Moleküle, die die Aktivität des Targets verändern können, in räumliche Nähe zueinander. „Die Nutzung dieses Mechanismus bedeutet eine grundlegende Veränderung in der Arzneimittelentwicklung: Bislang sind nur etwa 15 Prozent der bekannten Targets mittels herkömmlicher Wirkstoffe adressierbar. Die molekularen Vermittler ebnen nun den Weg für neue Behandlungsmöglichkeiten gegen zahlreiche Erkrankungen, die bisher als unbehandelbar galten“, erklärt Dr. Stefan Kropff, Medizinischer Direktor der Amgen GmbH.

Eine Brille für T-Zellen

Ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz multispezifischer Moleküle in der Krebstherapie sind BiTE® Moleküle (Bi-specific T-cell engagers), die von Amgens Forschungsstandort in Deutschland entwickelt wurden. 2015 kam in der EU das erste Amgen-Arzneimittel auf den Markt, das die BiTE® Technologie nutzt; es wird gegen eine bestimmte Form der Leukämie eingesetzt.

Ein BiTE® Molekül kann zwei verschiedene Zellen miteinander verbinden. Es handelt sich dabei um körpereigene T-Zellen, die die Aufgabe haben, fremde oder kranke körpereigene Zellen zerstören, und Krebszellen. Krebszellen können sich nämlich vor den T-Killerzellen „verstecken“. Anschaulich vorgestellt setzen die BiTE® Moleküle den körpereigenen Abwehrzellen eine Art Brille auf, so dass diese Krebszellen besser erkennen und bekämpfen können.

Moleküle als Recycling-Aufkleber

Die neue Wirkstoffklasse kleiner multispezifischer Moleküle – die sogenannten PROTAC®s (von Proteolysis-Targeting Chimeras) arbeitet ebenfalls mit dem Konzept der induzierten Nähe. 

Will eine Zelle unerwünschte Proteine loswerden, setzt sie das Enzym Ubiquitin-Ligase ein. Die Ligase markiert das unerwünschte Protein mit Ubiquitin, sie klebt sozusagen einen Recycling-Aufkleber auf. Das Protein-Entsorgungssystem der Zelle kann das unerwünschte Protein nun erkennen und zerlegt es in kleine Stücke.

Ein PROTAC®-Molekül unterstützt diesen Prozess: es hat zwei Arme, von denen einer an das Zielprotein bindet und der andere an die Ubiquitin-Ligase (1). Das PROTAC®-Molekül bringt also Ligase und unerwünschtes Protein zusammen, sodass die Ligase ihren Recyclingaufkleber anbringen kann. Das PROTAC®-Molekül wirkt also katalytisch (beschleunigend). Nachdem das Protein-Entsorgungssystem die markierten Zielproteine in kleine Peptide und Aminosäuren zerlegt hat, löst das PROTAC®-Molekül seinen Arm wieder ab und greift sich das nächste Target. Da diese „catch-and-release“ Aktion beliebig oft wiederholt werden kann, wird lediglich eine kleine Menge des Arzneimittels benötigt (2).

Außerdem könnten PROTAC®S auch die Behandlung bisher unheilbarer Erkrankungen ermöglichen: Sie sind nämlich nicht auf eine aktive Bindungsstelle angewiesen (2). Wie oben erklärt, beschränken sich klassische Wirkstoffe auf Zielproteine mit einer Bindestelle (Schlüssel-Schloss-Prinzip), wie etwa Enzyme und Rezeptoren. Proteine ohne diese angreifbare Bindestelle im aktiven Zentrum gelten deshalb als „undruggable“ (nicht behandelbar) (3) – was immerhin für etwa 85 Prozent der menschlichen Proteine gilt. PROTAC®-Moleküle hingegen sind darauf nicht angewiesen, da sie jede beliebige Bindungsstelle nutzen können. Potenziell kann sich ihr Nutzen zukünftig also weit über die bislang behandelbaren 15 Prozent hinaus erstrecken.

Multispezifische Moleküle stellen besonders in ihrer Entwicklung eine Herausforderung dar, doch zeichnen sich schon jetzt vielversprechende neue Verwendungsmöglichkeiten ab. Diese neue Welle der Arzneimittelentwicklung kann dazu führen, dass zukünftig mehr Krankheiten behandelt werden können, als es heute möglich ist.

Referenzen:

  1. Pharmazeutische Zeitung: Proteine in den Abbau zwingen, https://www.pharmazeutische-zeitung.de/proteine-in-den-abbau-zwingen/
  2. Pharmazeutische Zeitung: Zweiarmige Hoffnungsträger, https://www.pharmazeutische-zeitung.de/zweiarmige-hoffnungstraeger/
  3. DocCheck Flexikon: Proteolysis Targeting Chimeras, https://flexikon.doccheck.com/de/Proteolysis_targeting_chimera

Autor/in

Margherita Kemper

…ist promovierte Biologin und zuständig für den Bereich Life Sciences. Dies umfasst nicht nur die spannende Sammlung an Laborgeräten sondern auch die Leitung des DNA-Besucherlabors. Hier können Interessierte selbst an Laborgeräten unter Anleitung experimentieren und PCR, DNA-Isolation und Antigentests kennenlernen.

Ihr Tipp – Im Untergeschoss der Eingangshalle finden Sie eine Highlight-Ausstellung zu aktuellen Themen der Nano- und Biotechnologie. Hier können Sie sich zu spannenden Themen wie PCR, Rasterkraftmikroskope oder über die Genschere CRISPR/Cas informieren.

Christine Kolczewski

Christine Kolczewski leitet das Zentrum Neue Technologien (ZNT) und ist Kuratorin für Nano- und Biowissenschaften. Neben der Betreuung und Aktualisierung der Sammlung und Ausstellung zur Nano- und Biotechnologie gehört auch die Entwicklung und Planung von Veranstaltungen zum Thema Neue Technologien zu ihren Aufgaben.

Außerdem leitet sie die Abteilung Ausstellungsprojekte Sonderausstellungen und ist Ansprechpartnerin für alle großen und kleinen Sonderausstellungen auf der Museumsinsel.

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