Andrea Bistrich/ Annette Lein:Wie kamen Sie in die Eiserne Lunge?
Marion Treiber: Ich wurde 1939 in Köln geboren, es war Kriegsbeginn. Da hat man sich aufgrund der Bombenangriffe nicht um die Impfstoffe kümmern können, und damals war es noch üblich, dass man sich gegen Pocken impfen lassen musste – das gibt es ja heute nicht mehr. Soweit ich weiß, sollte die erste Impfung mit drei Jahren und dann eine weitere Impfung noch mal im Alter von ca. 11 Jahren erfolgen. Durch die Kriegszustände hatte ich die erste Impfung als Baby nicht bekommen. Nach dem Krieg hat mein Vater eine Stelle in Freiburg im Breisgau bei der Zeitung erhalten, und so sind wir nach Freiburg gezogen. Ich war elfeinhalb Jahre alt, als wir dort in der Schule die zweite Pockenimpfung bekommen sollten. Am Tag der Impfung hatte meine Mutter mir einen Brief für den Schularzt mitgegeben, in dem sie mitteilte, dass ich die erste Pockenimpfung nicht erhalten hatte. Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen: Wir mussten dann in kurzen Turnhosen antreten und der Schularzt schlug mir auf die Schenkel und sagte: „Die ist stark!“
Und jetzt kommt ein Teil, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, weil ich da nicht mehr bei Bewusstsein war. Ich weiß nur, dass meine Mutter mir erzählt hat: Mein Zustand verschlimmerte sich zusehends. 14 Tage nach der Impfung war ich schon vollständig gelähmt. Als der Hausarzt zu mir sagte: Steh mal auf, habe ich wie ein Maikäfer nur noch mit den Armen und Beinen rudern können. Ich habe wohl auch kaum noch Luft bekommen, wurde mir gesagt. Aber das weiß ich eben alles nicht mehr.
Was noch interessant war: Es gab in ganz Deutschland damals nur zweimal diese Eiserne Lunge. Eine in Frankfurt und eine eben in Freiburg. Die in Freiburg stand im Reichsbahn-Waisenhaus – das war ein riesengroßes Gebäude, und unten im Keller stand die Eiserne Lunge. Die war zu dem Zeitpunkt aber belegt. Und die nächste, die in Frankfurt, war auch belegt. Und das Merkwürdige war, dass der Mann, der in der Eisernen Lunge in Freiburg lag, plötzlich starb. Und so konnte man mich, als es jetzt ganz dringend geworden war, in die Eiserne Lunge legen.
Ich erinnere mich nicht, wie ich reinkam, und ich erinnere mich auch nicht, wie ich wieder herauskam. Ich wusste auch nicht, wie das Ding aussieht, Ich kann mich nur noch erinnern, dass es laut war und dass da wohl ein kleines Kopfbrett und ein Tuch waren, auf dem der Kopf liegen konnte. Der Rest des Körpers muss in dem Gerät gewesen sein. Davor war wohl auch ein Spiegel. Und ich weiß noch, dass ich mich in diesem kleinen Spiegel gesehen habe und wie mein ganzer Mund verklebt war.
Jetzt kommt aber eine lustige Geschichte: Dieses Reichsbahn-Waisenhaus war geführt von katholischen Nonnen. Die Nonnen trugen große weiße Flügelhauben. Und ich habe also dann in das Spieglein geguckt, und da saß in der Ecke eine dicke, weiß gekleidete Nonne mit so einer großen Flügelhaube. Und da habe ich gedacht: Ach, jetzt bin ich im Himmel. Das kann nur ein Engel sein, wenn man so dick und so weiß ist.
Später wurde mir gesagt, dass wohl auch eine Ärztin in dem Raum gesessen hätte. Sie hätte die ganz Nacht neben mir gewacht und wusste nicht, ob ich noch lebe oder nicht. Wie ich aber versucht habe, diese Trockenheit um den Mund loszuwerden, hätte sie gesagt: Sie lebt ja noch!