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Lange Zeit galt der renommierte Münchner Architekt Gabriel von Seidl (1848-1913) als alleiniger Urheber und Erbauer des größten technischen Museumsbaus in Europa. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass der heutige Sammlungsbau in enger Abstimmung mit seinem jüngeren Bruder Emanuel von Seidl (1856-1919) entstanden ist. Kistenweise Archivmaterial wurde analysiert, um dem zähen Ringer um die geeignete Form eines Museumsbaus auf die Spur zu kommen.

Es ist der Juli des Jahres 1915, der Elektrotechniker, Bauingenieur und Museumsgründer Dr. Oskar von Miller (1855-1934) ist zu Gast auf dem Landsitz seines Freundes in Murnau, Emanuel von Seidl, Oberbauleiter und leitender Architekt des Deutschen Museums in München.

Neben seinem Münchner Atelierhaus am Bavariaring hat sich Seidl kurz nach der Jahrhundertwende ein Landhaus in der reizvollen Voralpenlandschaft von Murnau am Staffelsee errichtet und experimentiert mit dem frisch aus England importierten Gedankengut der Reform. Landhaus und Park sind seine Visitenkarte für Unternehmer aus ganz Deutschland, sein Ruf als kultivierter Gastgeber ist legendär. Während in der Welt bereits Krieg herrscht, kann man in Murnau noch Tee trinken.

Von der Gründung des Deutschen Museums 1903 bis kurz vor Eröffnung des Ausstellungsgebäudes 1925 sind die beiden Brüder Gabriel und Emanuel von Seidl die Gestalter und kreativen Köpfe eines der größten Museumsbauten Europas kurz nach der Jahrhundertwende. Architekt Oswald Bieber (1874–1955) führt die Planungen der beiden ab 1920 weiter und begleitet das Großprojekt bis zur Eröffnung im November 1925.

Die Gründung des “Museums von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik” wird am 28. Juni 1903 vormittags um 11 Uhr im Festsaal der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München ausgerufen. Neben dem Initiator Oskar von Miller sind bei dieser Gründungsversammlung auch die beiden Vorstandskollegen und Mitbegründer Walter von Dyck, Rektor der Technischen Hochschule München (1856–1934), und Carl von Linde (1842–1934), Unternehmer und Forscher auf dem Gebiet der Kühltechnik, anwesend. Den Vorsitz hat der Prinzregent von Bayern. Der Zweck des Museums ist laut Satzung folgender:

  1. Sammlungen von wissenschaftlichen Instrumenten und Apparaten sowie von Originalen und Modellen hervorragender Werke der Technik, welche anschaulich geordnet und erläutert im Museum zur öffentlichen Besichtigung aufgestellt sind.
  2. Ein Archiv, in welchem wichtige Urkunden wissenschaftlichen und technischen Inhaltes aufbewahrt werden.
  3. Eine aus Handschriften, Zeichnungen und Drucksachen gebildete technisch-wissenschaftliche Bibliothek.

Das Provisorium

Die Ankäufe erster Exponate machen Stiftungen und Überweisungen aus der deutschen und bayerischen Industrie möglich. Bis ein neues Museumsgebäude entwickelt und realisiert sein würde, wurde ein Provisorium in den freien Räumen des Alten Nationalmuseums in der Maximilianstraße 26 (heute Museum Fünf Kontinente) eröffnet. Prinzregent Luitpold als Schutzherr über das Museum genehmigte die Adaptierung.

Die damals entwickelte Struktur für ein breites Themenspektrum von 36 Abteilungen, die von Mathematik über Messwesen, Geodäsie, Astronomie, Telegraphie & Telefonie,
Schiffbau, Chemie, Mineralogie und Geologie bis hin zu Hygiene & medizinischen Apparaten reichen sollte, ist bis heute weitgehend beibehalten.

Als Grundstock für das neue „Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik“ stellte das Kultusministerium die Schenkung der königlichen Akademie der Wissenschaften in München mit wissenschaftlichen Apparaten von Fraunhofer, Reichenbach und Steinheil zur Verfügung.

Das Provisorium in der Maximilianstraße wird am 12. November 1906 eröffnet. Die Grundsteinlegung für das endgültige Museum auf der Isarinsel findet am 13. November 1906 im Beisein des deutschen Kaisers Wilhelm II. und der Kaiserin Auguste Viktoria, von Prinzregent Luitpold von Bayern, dem Münchner Bürgermeister von Borscht, den Vorstandsmitgliedern des Deutschen Museums Walter von Dyck und Carl von Linde natürlich mit Oskar von Miller und dem Architekten Gabriel von Seidl statt.

Der Wettbewerb

Die Stadt München insistierte vor Baubeginn des Museums auf einem Wettbewerb, an dem 31 Architekten, unter anderem Paul Ludwig Troost (1878–1934) und Carl Jäger (1868–1961) teilnahmen. Der Gewinner war allerdings Gabriel von Seidl. Sein Vorschlag, einen Tempel für Naturwissenschaft und Technik zu errichten, überzeugte die Jury. Der geistige Anspruch, den er an das Gebäude gestellt hatte, materialisierte sich im Grundriss und an zwei Fassaden. Die Apotheose, die Sakralisierung von Kunst und Architektur, der göttliche Aspekt in Naturwissenschaft und Technik, sollte sich im gesamten Gebäude ausdrücken.

Der Bauplatz

Die sogenannte Kohleninsel in der Isar, wo bis ins 19. Jahrhundert das Brennholz für die Stadt durch die Isarflößer anlandete und vor Ort zu Holzkohle verarbeitet wurde, war für den Museumsneubau bestimmt. Die Stadt München hatte ihn kostenfrei zur Verfügung gestellt. Der außergewöhnliche Inselplatz würde die Silhouette des Museumsbaus weithin über die Isar und zur Innenstadt hin sichtbar machen und über eine große Signalwirkung verfügen. Der Platz auf der Insel war schon im 19. Jahrhundert immer wieder Örtlichkeit für Ausstellungen und Messen gewesen.

Eine Million Mark hat die Stadt München für die Baukosten gestiftet. Vier Millionen trugen das Deutsche Reich und das Königreich Bayern bei, zwei Millionen Mark kamen aus Stiftungen der deutschen Industrie.

Vorbereitungen und Baubeginn

Ab 1907 wurde Baumaterial wie Ziegel, Steine und Zement gesammelt, behördliche Konzessionen und Offerten eingeholt, der Bauplatz umzäunt, Baumaterialien transportiert, Firmen ausgewählt. Zunächst fanden Bohrungen und Bodenuntersuchungen auf dem Inselgrund statt.

1909 wurde der Bauplatz eingerichtet: Das Münchner Bauunternehmen der Gebrüder Rank errichtete Bauplanken, Bauhallen und Lagerhallen. Für Transporte wurden Gleisanlagen und Rollbahnen angelegt, bevor der Erdaushub begann. Erdbewegungen, Straßenbau, Planierungen und Fundierungen wurden auf der Insel vorgenommen, bevor die erstmals und speziell für den Untergrund des Museumsbaus entwickelten wulstartigen Pfähle von der Firma Strauss als Vorbereitung für das Fundament in den kieshaltigen, sandigen Boden der ehemaligen Kohleninsel gerammt wurden. Im Jahr 1910 war der Sammlungsbau bereits zur Hälfte ausgeführt, 1911 konnte das Richtfest gefeiert und das Bibliotheksgebäude projektiert werden.

Der Tempel

Der Grundriss des zentralen Sammlungsbaus von 1905 entsprach dem Prinzip eines antiken Tempels mit einer Halle (entspricht der Cella im Tempel) auf Säulenstellungen, einem umlaufenden Peristyl und einer Vorhalle. Der Säulenumgang mit den Großobjekten im Erdgeschoss und die hallenartige Konstruktion im Zentrum wie auch das Säulenvestibül im Eingangsbereich basierten auf diesem Grundgedanken. Durch den Antikenbezug entstand auch die Grunddisposition des gesamten Gebäudes. Die Anforderung an ein technisches Museum und der Tempelgedanke verbanden sich im Grundriss des Erdgeschosses wie folgt: An ein quer liegendes, ellipsenförmiges, zentrales Vestibül mit doppelten Säulenstellungen schloss sich eine annähernd quadratische Halle mit Peristyl an, welche in ihrer Höhenstaffelung den unterschiedlichen Exponaten angepasst werden konnte. So wurden die Objekte für Eisenbahn-Wasser-Brückenbau etc. sowie Bergbau und Geologie ins Zentrum der Ausstellungshalle gerückt. An den Längsseiten der Halle waren Originale von Bergwerkseinrichtungen und Maschinen sowie Landtransportmittel, Schiffbau etc. projektiert. Der seitliche Umlauf wurde für Maschinenbau, Eisenhüttenwesen, Straßen-Eisenbahnbau und für Landtransportmittel und Schiffbau etc. reserviert.

Im ständig veränderten und schließlich ausgeführten Grundriss des Erdgeschosses war der Tempelcharakter kaum noch erkennbar, das Peristyl wurde in kleinere Abteilungen aufgefächert. Dafür blieb das Vestibül mit seinen ionischen Säulen aus Gussbeton und die Fassade entlang der Zeppelinstraße mit antikisierenden Zitaten, die durch Versatzstücke an Tempelfronten erinnern, erhalten. Der ehemalige Tempeleingang im Nordwesten, wo heute das Eingangs- und Kassengebäude zur Corneliusbrücke hin liegt, wurde mehrfach überbaut.

Die übrigen Fassaden des Deutschen Museums wurden von Gabriel von Seidl allansichtig und individuell gestaltet. Es ist eine Interpretation, keine strenge Anwendung der historistischen Formen des vergangenen 20. Jahrhunderts. Mit Ausnahme der zur Innenstadt hin gerichteten Nordwestfassade, welche mit ihrem modernen Wetterturm auf quadratischem Grundriss und ihrer funktionalen Gliederung eine zeitgenössische Sachlichkeit ausstrahlte, orientierte sich Gabriel von Seidl an französischen Vorbildern von Akademien, Museen und Universitäten und bettete diese in die Formensprache des Historismus ein. Im Spannungsfeld dazu liegen der modernste Baustoff Beton und ein Eisenbetongerüst. Es war Oskar von Millers Idee, das Museum ganz in Eisenbeton errichten zu lassen und das Baumaterial auch sichtbar zu belassen.

Gabriels Tod und Emanuels Projekt für die Bibliothek

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Juli 1914 bringt den Bau des Deutschen Museums durch Mangel an Baumaterial und Arbeitskräften, schwierige Transportwege und finanzielle Einbußen fast zum Erliegen. In den Jahren von 1915 bis 1916 wurde lediglich an den Interieurs des Ausstellungshauses gearbeitet und die beiden Verbindungsflügel zwischen Sammlungs- und Bibliotheksbau errichtet. In den Jahren von 1916 bis 1917 wurden die Bauarbeiten fast vollständig eingestellt. Bevor Gabriel von Seidl im April 1913 stirbt, schreibt er noch in einem Brief an das Deutsche Museum: “Auf meinem Krankenlager sind meine Gedanken vor allem beim Neubau des Museums, welches schon so lange ohne Architekten und Leiter fortmacht […]. Ich möchte nun beantragen, und dringend dazu raten, dass Kompositionen niemand anderer macht als mein Bruder Emanuel […]. Es ist nicht nötig, näher auszuführen, dass kein anderer Architekt die mir eng verwandte Auffassung und einen gewissen Wurf in der Behandlung besitzt, die sich famos an meine Auffassung anschließt. Ich könnte mir eine andere Wahl gar nicht denken und glaube, dass das Gefühl allgemein sein wird, dass in seinen Händen alles vorzüglich, von höchster Qualität, und in gewisser Harmonie mit meiner Arbeit werden wird.”

Emanuel von Seidl erhält am 24. Mai 1913 seinen Vertrag mit dem Deutschen Museum in München als neuer Bauleiter und Architekt. Zu seinen Aufgaben zählt die Innenausstattung des fertigen Sammlungsbaus, hier vor allem der Ehrensaal, die Projektierung des Bibliotheksgebäudes, dessen Entwurf an ein barockes Schloss angelehnt war, und die Überwachung der Bauarbeiten. Im März 1918 liegt der gesamte Plansatz zum Bau eines Bibliotheksgebäudes vor. Mit einem umfassenden Raumangebot, welches Forschern, Wissenschaftlern, Studierenden, Besuchern aus dem Museumsbau und “allen Kreisen der Bevölkerung” zur Verfügung stehen sollte, entsteht das Projekt zu einem repräsentativen, neuen Bibliotheksbau, welcher dem Sammlungsbau nicht mehr als Ergänzung, sondern selbstständig gegenüber stand. Mit einem gigantomanischen Anspruch eines repräsentativen und feudalen Schlosses, dessen Baukubus in ein für den Barock typisches Ein- und Ausschwingen des Baukörpers verfällt, mit Zitaten der Feudalherrschaft wie einer doppelreihigen Allee, Wasserbassin, Auffahrt, Ehrenhof, Inszenierung der Lichtsituation und einer grandiosen Geste zu beiden Seiten der Isar endet die Ära Seidl.

In der Ausschusssitzung im Mai 1927 sagt Oskar von Miller: „Es handelt sich also nur um den Entschluss, an die Ausführung des Bibliotheksbaus wirklich heranzugehen. Wenn man zu diesem Entschluss kommt, dann muss man zuerst Pläne haben. Wir hatten allerdings bereits vor Jahren Pläne von Gabriel und Emanuel von Seidl. Ihre Ausführung ist aber für die jetzige Zeit zu teuer.“ Nach dem Tod von Emanuel von Seidl im Dezember 1919 übernimmt Architekt Oswald Bieber die Arbeiten und begleitet den Ausstellungsbau bis zur Eröffnung im Mai 1925.

Nach der Durchführung eines Wettbewerbs wird der Architekt German Bestelmeyer (1874–1942), Professor an der Technischen Hochschule in München und gleichzeitig Präsident der Akademie der Bildenden Künste, mit dem Bau eines Bibliotheks- und Kongressgebäudes beauftragt, obwohl er lediglich den vierten Platz beim Wettbewerb erreicht hatte.

Mit seinem Schüler Karl Bäßler (1888–1973) erarbeitet Bestelmeyer die Pläne eines sachlichen Funktionsbaus, welcher keinen Bezug zum bereits bestehenden Museumsgebäude aufnehmen sollte oder wollte. Grundsteinlegung für das neue Bibliotheksgebäude war am 4. September 1928. Bereits am 6. Mai 1930 konnte das Richtfest des Stahlgerüstbaus gefeiert werden. Am 7. Mai 1932 waren die Bibliothek und das Kongressgebäude endgültig zur Realität geworden und wurden eröffnet.

Autor/in

Foto Katharina Drexler

Katharina Drexler

Katharina Drexler hat Kunstgeschichte in Wien und Siena studiert und für ihre Dissertation am Institut für Baukunstgeschichte der Universität Innsbruck das Gesamtwerk des Münchner Architekten Emanuel von Seidl aufgearbeitet. Zum einhundertsten Todesjahr des Architekten im Jahr 2019 hat sie eine Sonderausstellung im Schlossmuseum in Murnau kuratiert.

Als Stipendiatin und Gastwissenschaftlerin am Forschungsinstitut des Deutschen Museums hat sie über Reformarchitektur geforscht und ihre Dissertation beendet.