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Von Julia Bloemer
Heute begeben wir uns auf die Spur verrückter Bilder im Deutschen Museum und machen uns auf den Weg in die Ausstellung Optik. Den Weg wählen wir über die historische Luftfahrt im ersten Obergeschoss, werfen einen kurzen Blick auf die rote Fokker und wüssten wir es nicht besser, würden wir beinahe den kleinen Wegweiser mit der Aufschrift „Physik (Optik)“ übersehen. Obwohl der Pfeil nach rechts zeigt, wenden wir uns nach links und betreten einen unscheinbaren, abgedunkelten Raum. Denn auch dieses Zimmer zeigt optische Instrumente, und neben einem Brennlinsenapparat liegt auf dem Boden eine kreisrunde Abbildung. Sie steht auf dem Kopf und ist völlig verzerrt und verdreht – was soll das Ganze?

Es handelt sich bei dieser Zeichnung um eine sogenannte Anamorphose, eine mit Hilfe der Perspektive bewusst verzerrte Darstellung, die nur unter einem bestimmten Blickwinkel oder mit Hilfe eines speziellen Spiegels erkennbar ist. Ein Zylinderspiegel, in der Mitte positioniert, lässt das Bild sichtbar werden: eine Szene aus der griechischen Mythologie, in der der Weingott Dionysos seiner Braut Ariadne einen Diamantenkranz schenkt.  Diese Ende des 18. Jahrhunderts in Augsburg entstandene Anamorphose mit dem Weingott war ein reines Unterrichtsinstrument. Mit Hilfe der zylindrischen Oberfläche sollten die Gesetze der Spiegelung demonstriert werden: Geraden erscheinen im Spiegelbild als gekrümmte Linien, Kreise als Geraden. Aber nicht nur die Physik wurde zum Thema gemacht, die Abbildungen ergänzten auch den Lateinunterricht. Der weinumrankte Text sollte übersetzt und mit der deutschen Gedichtform unter dem Spiegel verglichen werden. 

Voraussetzung für die Entwicklung der Anamorphosen war die Entdeckung der Perspektive im 15. Jahrhundert. Die älteste bekannte Anamorphose stammt von Leonardo da Vinci aus dem Jahre 1485: eine wolkenähnliche Zeichnung, die beim schrägen Betrachten als Kinderkopf wahrgenommen werden kann. Dabei lagen da Vinci zu diesem Zeitpunkt noch keine Konstruktionsanleitungen vor, nach denen er bei seiner Zeichnung hätte vorgehen können. Vielmehr sind diese Skizzen der Beleg für künstlerisches Experimentieren, die erst 1630 durch französische Mönche systematisch und theoretisch untersucht wurden. Besonders im 17. Jahrhundert erfreuten sich die Anamorphosen großer Beliebtheit, boten sie doch für Themen mit zweideutigem Inhalt (um beispielsweise verdeckte Kritik an Würdenträgern zu üben) eine ideale Tarnung und konnten als Verschlüsselungstechnik verwendet werden. 

Um eine Anamorphose herzustellen, muss das ursprüngliche Bild neu gemalt oder gezeichnet werden. Dabei wird es nach entsprechenden Gesetzmäßigkeiten verzerrt. Für Zylinderspiegel-Anamorphosen gibt es dafür drei Möglichkeiten: Ausprobieren, ein Gitternetz verwenden oder ein Computerprogramm zur Hilfe nehmen (z.B. Anamorph Me http://www.webec.de/cms/front_content.php?idcat=83). Bei der einfachsten Methode zeichnet der Maler - mit Blick in den Spiegel - die Umrisse seines Bildes so, dass die Darstellung im Spiegel unverzerrt erscheint. Dies bedarf einiger Übung und entspricht da Vincis Vorgehensweise. Die meisten Anamorphosen wurden jedoch mit Hilfe eines Rasters erzeugt. Dazu wird zunächst ein quadratisches Gitternetz gezeichnet und dieses in ein verzerrtes Raster „übersetzt“. Bei einer Zylinderspiegel-Anamorphose sind die neuen Rasterzellen bogenförmig angeordnet. Anschließend wird der Inhalt jeder Zelle in die entsprechende Zelle des neuen, verzerrten Gitters übertragen. Dies ist eine sehr zeitaufwändige Methode, wurde aber seit dem 16. Jahrhundert überwiegend verwendet. Da die Übertragung vom Original in die Anamorphose strengen mathematischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, lassen sich Anamorphosen heutzutage sehr genau mit Computerprogrammen herstellen. Die ursprünglich großen Gitterzellen sind dabei die einzelnen Pixel eines digitalen Bildes. 

Auch heute finden sich noch Anamorphosen in unserer Umgebung. So sind die aufgemalten Zeichen und Aufschriften der Fahrbahnen auf den spitzen Winkel des Autofahrers abgestimmt. Auch solche Anamorphosen gibt es im Deutschen Museum. Das Bild mit der Inventarnummer 912 wirkt, von oben betrachtet, ausgesprochen schief. Doch legt man es in die eigens dafür konstruierte Betrachtungshalterung, offenbart sich sein Inhalt, ein Reiterkampf. Insgesamt verfügt das Deutsche Museum über circa 50 Anamorphosen in seinen Sammlungen.

Das Spiel mit der Illusion ist also alles andere als Fiktion und auch wenn das Ausstellungsschild zur Optik in die andere Richtung weist – ein Blick in die weinrot hinterlegte Vitrine offenbart neue Perspektiven.

Julia Bloemer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und arbeitet im DFG-Projekt zur Erschließung und Digitalisierung der Akademiesammlung. Sie studiert Kern-, Teilchen- und Astrophysik an der TUM und schreibt gerade an ihrer Masterarbeit über den ALICE-Detektor am LHC am CERN.  

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Gastblogger

Immer wieder schreiben Gäste im Blog - Informationen zu diesen Autorinnen und Autoren finden sich im jeweiligen Beitrag. Als Gastblogger schrieben in letzter Zeit: <link 12873 - internal-link-new-window "Opens internal link in new window">Jutta Schlögl</link> war als Physik-Ingenieurin im Bereich Technische Entwicklung tätig und ist seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Museums. Sie leitet das Projekt Experimentier-Werkstatt.Dorothea Föcking ist Hamburger Abiturientin und macht ein zweimonatiges Praktikum im Vorbereitungsteam der Sonderausstellung "Anthropozän". Ihr Tipp für einen Besuch im Deutschen Museum: Bei einem Museumsbesuch sollte man unbedingt Halt in der <link 81 - more>Pharmazie-Ausstellung</link> machen, um in das Innere der riesigen, gemütlichen Zellnachbildung zu schauen.